«Technisch ist es möglich – politisch ist es schwierig»

Camille Marion und Nelly Jaggi

Jon Worth bezeichnet sich als Eisenbahn-Kommentator. Er reist häufig und gerne im Zug. Seine Beobachtungen, Einschätzungen und Analysen werden im eigenen und viel beachteten Blog verarbeitet. Das VCS-Magazin hat mit ihm über die Probleme und die Zukunft des Zugfahrens über Ländergrenzen gesprochen.

  

Jon Worth, seit über zehn Jahren machen Sie all Ihre (Geschäfts-)Reisen in Europa mit dem Zug. Ihr Spezialgebiet ist der grenzüberschreitende Bahnverkehr. Was hat Ihr Interesse daran geweckt?

Ich komme nicht aus der Eisenbahnbranche, habe aber jahrelang versucht, all meine Reisen mit dem Zug zu machen. Oft blieb ich stundenlang stecken. Ich stellte mir die Frage, wer auf europäischer Ebene etwas unternimmt, um all diese Probleme zu beheben. Die Antwort war: niemand so wirklich. NGOs und Kampagnenorganisationen kümmern sich um die alltägliche Politik. Aber wie ist es aus Sicht der internationalen Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer? Was sind deren Probleme und wie könnte man sie beheben?

Was war Ihr einprägsamstes Erlebnis auf Ihren grenzüberschreitenden Zugreisen?

Auf den 25 Kilometern zwischen der zweitgrössten Stadt Lettlands Daugavpils und dem litauischen Dorf Turmantas mit 280 Einwohnern gibt es lediglich eine Schotterstrasse, daneben führen Bahngleise entlang, die aber nicht benutzt werden. Ich war mit meinem Fahrrad auf dieser Strasse unterwegs, als mich ein Bus überholte. Im letzten Dorf auf der lettischen Seite stiegen die Passagiere aus und überquerten die Grenze zu Fuss. Dass diese Menschen einen Bus nehmen und die Grenze zu Fuss überqueren müssen, ist ein politisches Versagen. Es gibt die Züge, es gibt das Personal. Aber es gibt einen Streit über die Subventionen für den Diesel, weil die Strecke nicht elektrifiziert ist. Die Strecke ist wichtig für die Menschen, aber die politischen Instanzen auf beiden Seiten der Grenze finden keine Lösung.

Es gibt sicherlich auch positive Beispiele?

Die Öresundbrücke zwischen Kopenhagen und Malmö: die Leute in dieser Region haben die Zugverbindung in ihren Alltag integriert. Es ist völlig normal, auf der einen Seite der Brücke zu wohnen und auf der anderen Seite zu arbeiten, zu studieren oder auch nur ein Restaurant zu besuchen. Die Züge fahren rund um die Uhr. Die Brücke mit dem Auto zu überqueren, ist sehr teuer. Für Alltagsfahrten nimmt man lieber den Zug.

Im Frühling war in den Medien von einer direkten Zugverbindung zwischen Basel und London die Rede. In Ihrem Blog schreiben Sie, das sei unmöglich, warum?

Das Problem ist die politische Situation; diese britische Angst vor Einwanderung und dass Grossbritannien nicht mehr Teil der EU ist. Bei einer Reise nach Grossbritannien sind Sicherheits-, Gepäck- und Passkontrollen vor der Einreise erforderlich. Gepäckkontrollen würde man halbwegs hinkriegen, indem man ein Gleis sperrt. Die Grenzkontrollen müssen vor der Einreise in den Tunnel geschehen, denn die britischen Grenzbeamten schaffen es nicht, dies in einem rollenden Zug zu machen. Wo also tut man das und kann man das finanziell stemmen? Soll der Zug unterwegs in Frankreich weitere Leute zusteigen lassen? Da müsste man dann ebenfalls Grenzkontrollen machen. Oder fährt man ohne Zwischenhaltestellen quer durch Frankreich und ist eine solche Verbindung dann wirtschaftlich? Technisch ist es möglich – politisch ist es schwierig. Mein Fokus für Verbindungen von oder nach der Schweiz wäre ein anderer: etwa Hochgeschwindigkeitszüge nach Barcelona oder bessere Verbindungen nach Rom.

Was braucht es denn, damit eine internationale Verbindung gut funktioniert? Müssen sich die Regionen zusammenschliessen oder braucht es eine europäische Strategie?

Gibt es eine politische Unterstützung beidseits der Grenze, kommt es europaweit voran. Es gibt das Beispiel einer Verbindung zwischen Antwerpen und Eindhoven: Es gibt eine Strecke, aber auf sieben Kilometern fehlt die Elektrifizierung. Die Belgier haben ein Interesse, die Niederländer hingegen nicht. Die EU könnte die Entscheidungsträger auf beiden Seiten der Grenzen zusammenbringen und eine gemeinsame Lösung finden. Aber bisher hat die EU aus meiner Sicht wenig Interesse an einer solchen Vorgehensweise. Ich erwarte mehr Druck, zurzeit muss alles von unten kommen.

Von und nach der Schweiz gibt es ähnliche Probleme zwischen Belfort und Delémont: Die Schweiz hat ein starkes Interesse an der Verbesserung der Strecke, die französische Seite hingegen nicht. Solche Situationen gibt es an ziemlich vielen Grenzen.

Laut Umfragen wären viele Leute bereit, mit dem Zug statt mit dem Flugzeug zu reisen. Doch das ist bisweilen eine Herausforderung. Besonders hinsichtlich Ticketkauf gibt es Handlungsbedarf.

Wir brauchen auf europäischer Ebene einen neuen Gesetzesrahmen, um dieses Problem zu lösen. Sonst kommen wir nicht voran. Es geht um Datenaustausch. Sind die Bahnen bereit, Daten mit anderen auszutauschen? Ziemlich grundsätzlich nicht. Alle Bahngesellschaften in allen EU-Ländern haben Angst vor irgendjemandem: Die DB will nicht, dass Flixtrain ihre Ticketingdaten erhält. Die ÖBB wollen nicht, dass die Westbahn diese Informationen bekommt. Aber damit ich Tickets für Deutschland und Portugal mit der gleichen App kaufen kann, braucht es diesen Datenaustausch.

Einige Leute in Brüssel sagen, es brauche eine einheitliche Ticketing-Plattform. Ich hingegen will eine Verpflichtung für die Weitergabe von Daten. Es ist mir egal, ob ich ein Ticket für Portugal bei der SBB, den portugiesischen Staatsbahnen oder auf einer privaten Plattform kaufen kann. Ich bin für Konkurrenz und Wahlfreiheit.

  

Mit Trainline oder mit Interrail haben wir Produkte, die eine Lösung anbieten …

Ich mag Interrail total. Aber Interrail scheitert genau an diesen Problemen. Für eine Sitzplatzreservierung in französischen TGV-Zügen muss man über einen Drittanbieter buchen. Die Firma hinter Interrail gehört den staatlichen Eisenbahnfirmen. Das funktioniert in der Schweiz gut: Man kann einfach in den nächsten Zug einsteigen, es gibt keine Reservierungspflicht und praktisch keine Zuschläge. Im Gegensatz dazu ist Interrail in Frankreich oder Spanien sehr kompliziert – auf manchen Strecken gibt es nur sehr wenige Züge, und alle sind reservierungspflichtig. Plattformen wie Trainline, Rail Europe und Omio versuchen, die Buchung von normalen Fahrkarten zu ermöglichen, aber keines dieser Tools funktioniert bisher gut genug.

Liegt es auch am Preis, dass viele Leute nicht öfters mit dem Zug reisen?

Es ist sowohl der Preis als auch das Zugangebot. Für viele internationale Strecken sind die Fahrpläne schlecht. Nehmen wir Frankfurt–Paris und Frankfurt–Berlin: Beides dauert knapp vier Stunden. Von Frankfurt nach Berlin fahren rund um die Uhr Züge. Von Frankfurt nach Paris gibt es nur fünf Abfahrten am Tag. Die erste ist zu spät, die letzte ist zu früh. Das bedeutet, dass es schwieriger ist, einen Tagesausflug oder einen Businesstrip nach Paris zu machen, als innerhalb eines Landes.

Auf vielen internationalen Strecken ist die Kapazität zu gering. Deshalb ist das Angebot entweder sehr teuer oder es ist nicht nützlich. Paris–Barcelona ist für Touristen sehr wichtig, aber es verkehren nur zwei Züge pro Tag. Auf einer solchen Verbindung liegt deutlich mehr drin. Und was tun dann die Bahngesellschaften? Die DB führte im Sommer die Reservierungspflicht auf allen internationalen Linien ein. Sie hat Angst vor zu vielen Passagieren. Doch statt mehr oder längere Züge anzubieten, führen sie eine Reservierungspflicht ein, um die Kapazität zu begrenzen. Internationales Reisen ist für die Bahngesellschaften ein Niceto-have, kein Must-have.

Wie unterscheiden sich die Interessen zwischen Freizeitverkehr und Geschäftsverkehr? Braucht es für ersteren vor allem Nachtzugverbindungen, für letzteren eher schnelle Verbindungen am Tag?

Die Verbindungen tagsüber sind einfacher zu lösen, weil in der Regel nur zwei Länder betroffen sind. Die Situation mit den Nachtzügen ist komplizierter. Ausser den ÖBB und zum Teil Trenitalia hat niemand wirklich eine Lösung. Wer hat sonst Interesse an diesem Geschäft? Das sind eher kleine Bahnfirmen, entweder private wie European Sleeper oder die kleinen staatlichen. Die Grossen, die das stemmen könnten, wollen nicht. Und die Kleinen, die das wollen, schaffen es nicht. Sie haben weder die Züge noch ausreichend finanzielle Mittel, um in dieses Geschäft einzusteigen. Die Züge von European Sleeper, die von Brüssel über Amsterdam nach Berlin fahren, haben Schlafwagen aus den 50er-Jahren! Das Limit für Nachtzüge ist erreicht, niemand hat passende Wagen. Deshalb bin ich skeptisch, was das Potenzial neuer Nachtzuglinien europaweit angeht. Ohne die Beschaffung einer neuen Flotte wird dieser Markt nicht vorankommen. Obwohl es einen Bedarf gibt. Es gibt eine sehr interessante Firma mit Sitz in Basel, Ace4Rail, eine Leasingfirma für international einsetzbare Züge für den Personenverkehr tagsüber. Das wäre ein möglicher Weg, dieses Problem zu lösen.

Wie ist mit dem grenzüberschreitenden Pendlerverkehr?

Es muss einfach sein, grenzüberschreitende Abonnements zu kaufen. Und ein dichter Fahrplan ist sehr wichtig. Wenn ich zur Arbeit fahre und meine Kinder auf der anderen Seite der Grenze krank werden, warte ich in der Regel nicht mehr als eine Stunde auf den nächsten Zug. Drei oder vier Züge am Tag reichen vielleicht für Freizeitfahrten, aber nicht für Grenzpendelnde. Beim Léman-Express rund um Genf sieht man, wie es funktionieren kann.

In der EU fehlt ein gesetzlicher Rahmen dafür. Es ist machbar, aber es gibt noch viel zu tun.

Fehlt generell der politische Wille?

In der Schweiz ist Verkehrspolitik ein zentrales Thema. In Deutschland, wo ich lebe, und auf Brüsseler Ebene, wo ich arbeite, werden Verkehrsthemen in der Politik nicht als so wichtig angesehen. Im Herbst dieses Jahres wird es eine neue Europäische Kommission geben. Dann kommt hoffentlich jemand als Verkehrskommissar oder -kommissarin, der oder die mehr Druck macht. So könnte sich viel ändern.

Sie leben in Berlin, es gab verschiedene Initiativen, zum Beispiel das 9-Euro-Ticket, und jetzt gibt es das Deutschlandticket, was bringt das?

Wir haben erste Untersuchungen zum Deutschlandticket, es gibt ein Plus von etwa 16 Prozent auf die Anzahl der Personenkilometer mit dem kompletten ÖPNV. Ich bin ein Fan des Deutschlandtickets, aber es bringt auch Probleme mit sich. Es ist für Familien oder Menschen mit Fahrrädern oder Hunden schwierig zu verwenden, weil es schwer kombinierbar ist.

Für mich ist auch interessant, zu sehen, wie das Ticket zustande kam: Die liberale FDP forderte wegen erhöhter Ölpreise einen Tankrabatt, um die Autofahrenden zu entlasten. Die Grünen wollten daraufhin mit dem Neun-Euro-Ticket die Leute entlasten, die den ÖPNV nutzen. Das hat gut funktioniert, aber niemand ändert seine Entscheidungen für ein Verkehrsmittel nur für drei Monate. Als permanentes Ergebnis ist das Deutschlandticket entstanden. Normalerweise würde man die Zielgruppe definieren, den Verkehr entsprechend planen und danach ein Ticket entwickeln. Deutschland hat es komplett anders gemacht. Was sagen nun die Bahn- und Busunternehmen zu all diesen zusätzlichen Passagieren? Man hat oft den Eindruck, sie wollten das gar nicht. Aber als Passagier finde ich das klasse. Es macht den ÖPNV supereinfach, das ist der grösste Vorteil.

 

Diese Seite wird nur mit JavaScript korrekt dargestellt. Bitte schalten Sie JavaScript in Ihrem Browser ein!
.hausformat | Webdesign, TYPO3, 3D Animation, Video, Game, Print