Wildnis und himmlische Weite

Hier bleiben noch 1100 Höhenmeter: Tiefblick vom M. Giove auf Cannobio.

Der Aufstieg zur Krete oberhalb von Brissago (CH) ist eine schweisstreibende Angelegenheit, und die Grat- und Grenzwanderung hinüber nach Cannobio (IT) verlangt gut trainierte Beine. Dafür hat man Monte Rosa und Lago Maggiore sozusagen für sich allein.

So klein es mit seinen zwölf Schlafplätzen unter dem spitz zulaufenden Satteldach, man sieht es von weit her. So vom Südufer des Lago Maggiore, je nach Lichteinfall – oder wenn Schnee liegt – auch von Ascona oder Locarno aus. Wer an der Busstation Brissago Centro nordwärts zum Himmel blickt, könnte meinen, es handle sich um ein Gipfelrestaurant. Seit 1995 thront das Rifugio al Legn auf der Kante eines Gratausläufers des Gridone-Massivs, zwischen dem Sternenzelt und dem 1600 Meter tiefer liegenden See.

Der Kleinbus, der die Weiler gleich oberhalb von Brissago werktags erschliesst, ist keine grosse Hilfe. Massiv verkürzen lässt sich der über vierstündige steile Aufstieg nur durch eine Taxifahrt z. B. nach Cortaccio oder Mergugno, von wo je noch gut 700 Höhenmeter bis zum Rifugio auf der Alpe Arolgia verbleiben. Wiederum eine Stunde länger braucht, wer von Cavallascio durch den Kessel des Valle del Sacro Monte nach Mergugno hinüberquert, über sich die schroffe, zerklüftete Südflanke des Lenzuoli-Grats, der vom Pizzo Leone abgeht, am Wegrand mächtige Fingerhüte und andere Blütenpracht. Ein Erlebnis auch dies.

Wo es Anfang Juni Gold regnet

Für den Hüttenweg via Mergugno empfiehlt sich speziell die Zeit zwischen Ende Mai und Mitte Juni. Dann nämlich dürfte man den «Bosco sacro», die alpenweit grösste Berggoldregen-Kolonie, in voller Blüte antreffen. Anders als oft vermutet, ist der Baum, italienisch butterzart «maggiociondolo alpino» geheissen, nicht etwa ein Exot, sondern seit Urzeiten hier ansässig.

Die meisten Insekten scheuen seine giftigen Alkaloide, vor den Ziegen aber muss der Mensch, der auch sein exzellentes Holz schätzt, den Goldregen schützen. Sollten die gelben Blütentrauben im heiligen Wald einmal schon welk sein, leuchten sie womöglich noch weiter oben am Weg, der im Zickzack zum Rifugio führt.

Friede, Freude und Speckrösti

Zu verdanken ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Tour den Amici della Montagna di Brissago. Als Selbstversorgerhütte errichtet, ist das immer offene Rifugio inzwischen häufig bewartet – von Freiwilligen, die hier wochenweise Care-Arbeit für Bergwanderfans leisten. Unsere Gastgeberinnen heissen Rosmarie und Yvonne. Kleines Frage-Pingpong, und schon sind wir in angeregtem Gespräch. Zum Dessert verwöhnen sie uns mit Fruchtkuchen aus dem Holzofen. Davor gab es Suppe, Salat, Gemüse und eine köstliche Speckrösti. Hoffentlich kommen die beiden 2020 wieder.

Der Sonnenaufgang ist hinreissend, doch Gewölk und Nebelschwaden ersticken den Traum vom Traumfoto mit stahlblauem See aus der Vogelperspektive im Keim. Südwärts reiht sich dafür Bergkette an Bergkette; wie Theaterkulissen ragen sie aus den dunstverhangenen Tälern empor. Und immerhin erspähen wir den Gletscher des Rheinwaldhorns.

Weil unser Weg nach Cannobio noch ein weiter ist, lassen wir den Grenzgipfel Gridone, auch Ghiridone oder M. Limidario genannt, für einmal rechts liegen. So mächtig er sich, von Norden und Osten betrachtet, präsentiert, so unscheinbar wirkt er übrigens von «hinten», aus italienischer Perspektive. Genau auf 2000 Meter verlassen wir den Gipfelweg und nehmen Kurs auf den Grat zwischen Gridone und Cruit (2085 m). Ein letzter Schritt, und es öffnet sich eine völlig neue Szenerie mit dem Monte Rosa als Hauptdarsteller und der Bergwelt des Valle Cannobina.

Rezept gegen Muskelkater?

Die Cruit-Spitze umgehen wir in felsigem Gelände, Eisenketten erleichtern die Kraxelei. Dann führt ein langer Grashang geradewegs über den Grat und der Grenze entlang in den Passo Percadugine hinunter. Die Trittspur ist nicht immer sehr ausgeprägt, genau wie von der Landeskarte verheissen. Auf halbem Weg ein letzter Schweizer Wegweiser: Ab hier sind wir mit beiden Füssen in Italien. Es folgen zwei kleinere Gegenanstiege, die zwar den Abstieg nach Cannobio auf 2000 Höhenmeter anwachsen lassen, von unserer Muskulatur aber als wohltuend empfunden werden.

Beim Anstieg zur Punta Fronzina muss man Acht geben, nicht einer Wegspur auf den Leim zu gehen, die zu weit unten ins Niemandsland führt, wo es nur Gämsen noch wohl ist. Vielmehr: kurz auf den Gratrücken und erst dort rechts Richtung Gipfel einspuren. Beim Abstieg folgen die mit Ketten gesicherten Schlüsselstellen der Tour, die als anspruchsvolle Bergwanderung (Schwierigkeitsgrad T3) mit einzelnen Stellen im Grad T4 zu taxieren ist. Die schwierigste Passage am Grat des Monte Faierone kann links umgangen werden. Wir rasten, schauen zurück und staunen. Spektakuläre Einsamkeit in den Alpen, ohne dass Seil und Haken nötig sind: Hier ist sie.

Die Überraschung des Tages

Nach genussvollem Abstieg durch lichten Birkenwald führt uns ein neues Forststrässchen über Scierz nach Rombiago. Hier lohnen sich die paar Meter hinunter zum Weiler, weil das dortige Rifugio zwar selten offen ist, aber den ersten Brunnen seit Al Legn bietet. Vor uns steht der Monte Giove, ein massiger Kegel mit runder Kuppe und 360-Grad-Panorama. Nein, wir stechen links hinunter in einen Treppenweg, der bald wieder ins Strässchen mündet. Über zehn, zwölf Minuten ist dieses dann unangenehm steil, zumal auf dem geteerten Teilstück.

Unvermutet folgt die Wohltat auf dem Fuss: in Gestalt des Agriturismo Marcalone, der Häuschen und Zimmer vermietet (Minimum zwei Nächte) und unter Nuss- und Kirschbäumen zu Tisch lädt. Statt gut sechseinhalb «nur» gute fünf Wanderstunden, feine Küche mit regionalen und Bioprodukten: Das nächste Mal werden wir hier gebucht haben.

Wo der Saumpfad kurz nach Marcalone aufs Strässchen trifft, folgt man diesem ein paar Meter weit nach rechts. Die Bar im schönen Weiler Sant’ Agata brilliert mit ihrer Aussichtsterrasse, der Saumpfad, der vollends nach Cannobio führt, mit seiner Sanftheit. Das Städtchen: weitum – nicht zuletzt in Deutschland und Holland – bekannt für seine idyllischen Ecken, Plätzchen und Badestrände, am See und am Fluss bei Traffiume. Ein bisschen überlaufen ists aber einzig während der Sommerferienzeit.

Und natürlich besteht Sichtkontakt zum Rifugio al Legn. Ciao e arrivederci!

Praktische Informationen

Landeskarten 1:25 000, Blätter 1312 Locarno und 1332 Brissago

www.legn.ch

www.agriturismomarcalone.it

Osteria Bordei, www.bordei.ch (schmucke, lauschige Ausgangsbasis für den ebenfalls happigen Aufstieg zur Al-Legn-Hutte aus dem Centovalli, durchs faszinierend wilde Val di Bordei)

Busfahrpläne (Linie 3 Cannobio–Brissago, Linien 3/1 Cannobio–Pallanza–Verbania Ferrovia): www.vcotrasporti.it (Variante: über den Seeweg zurück ins Bahnnetz!)

Prato-Taxi/-Minibus: 079 331 33 33 / 091 793 03 03

http://www.procannobio.it/de/escursioni.asp?sezione=5

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