«Der soziale Aspekt ist ausschlaggebend, auch bei der Velonutzung»
Warum lassen Jugendliche das Velo in der Garage und steigen in den Bus? Wie kann man ihre Motivation steigern, mit dem Velo zur Schule oder zu Freizeitaktivitäten zu fahren? Ein Interview mit Aurélie Schmassmann, Co-Autorin einer Studie mit Jugendlichen aus Yverdon-les-Bains (VD).
Aurélie Schmassmann, weshalb haben Sie die Entwicklung der Velonutzung bei Jugendlichen untersucht?
Je früher Gewohnheiten etabliert werden, desto länger dauern sie an. Die Jugend ist ein entscheidendes Alter bei der Wahl des Verkehrsmittels. Mit dem Velo als Alternative können wir vermeiden, dass der Weg direkt vom Bus zu motorisierten Zweirädern und Auto führt. Ziel muss also sein, die Nutzung des Velos so früh wie möglich zu fördern.
Warum haben Sie dann nicht die Velonutzung von Kindern angeschaut?
Viele Studien beschäftigen sich mit Kindern. Jugendliche (in der Vorpubertät) werden hingegen oft vernachlässigt. Die Wahl des Verkehrsmittels von Kindern hängt stark vom Verhalten der Eltern ab. Junge Menschen hingegen treffen in ihrer Jugend auf neue Herausforderungen und mit dem Wechsel an eine höhere Schule vergrössert sich in der Regel die Entfernung vom Wohnort. Mit zunehmendem Alter vergrössert sich die Palette an verfügbaren Transportmitteln, auch wenn der Einfluss der Eltern wichtig bleibt.
Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse zum Einfluss des sozialen Umfeldes?
Ich habe mich auf die Rolle der Familie konzentriert, aber auch darauf, was in der Schule und mit Gleichaltrigen passiert. Wir konnten einen sehr starken Einfluss der Eltern feststellen: Wenn mindestens ein Elternteil Velo fährt, ist es viel wahrscheinlicher, dass die Kinder ebenfalls Velo fahren. Das gilt auch für die Art, wie das Velo verwendet wird: Die Entscheidung, das Velo als Fortbewegungsmittel oder als Freizeitgerät zu wählen, hängt vom Nutzungsverhalten der Eltern ab.
Schmassmann ist Doktorandin und Assistentin an der Universität Lausanne. Im Rahmen ihrer Dissertation untersucht sie die Nutzung des Velos von Jugendlichen und hat kürzlich mit Daniel Baehler und Patrick Rérat die Studie «The contrasted evolution of cycling during youth. Determinants of bicycle ownership and use» publiziert. Sie wurde mit Jugendlichen im Alter von zwölf bis 20 Jahren in Yverdon-les-Bains durchgeführt. Schmassmann arbeitet ausserdem für das Observatoire Universitaire du Vélo et des Mobilités Actives (OUVEMA), das an die Universität Lausanne angegliedert ist. Das OUVEMA wurde 2020 von Rérat und Bengt Kayser gegründet. Es verbindet wissenschaftliche Forschung mit der Praxis und arbeitet ausserdem mit weiteren Instituten, Bundesämtern, Gemeinden und Studieneinrichtungen zusammen.
Weitere Infos unter www.unil.ch/ouvema
Heisst das also, man sollte eigentlich die Eltern überzeugen, um Einfluss auf die Jugendlichen zu haben?
Das ist ein interessanter Ansatz. Das Verhalten der Eltern hat sicherlich einen Einfluss auf dasjenige ihrer Kinder, aber man beobachtet auch das Gegenteil. Jugendliche bringen Inhalte aus dem Unterricht nach Hause, vor allem in Bezug auf umweltbewusstes Verhalten. Im Rahmen dieser Studie habe ich auch ein paar Eltern befragt und festgestellt, dass einige mit der Geburt ihrer Kinder wieder mit dem Velofahren begonnen haben. Der Einfluss findet also gegenseitig statt.
Die Jugend ist auch eine Zeit, in der man sich manchmal den elterlichen Erwartungen widersetzen und Freundschaften stärker gewichten will. Welchen Einfluss hat das?
Es ist möglich, dass sich Jugendliche von Familiengewohnheiten lösen und sich anderen Mobilitätsoptionen zuwenden möchten. Aber diese Entscheidung ist viel mehr als ein Widerspruch gegen die Eltern. Sie ist durch den Wunsch motiviert, mit den Freundinnen und Freunden zur Schule zu fahren. Jugendliche bevorzugen öffentliche Verkehrsmittel, wenn sie dadurch Zeit in der Gruppe verbringen können. Der soziale Aspekt ist ausschlaggebend, auch bei der Velonutzung: Viele Jugendliche schilderten, wie wichtig es ihnen sei, nebeneinander zu fahren – selbst, wenn sie dadurch Umwege über Routen machen müssen, wo dies möglich ist.
Unterscheidet sich die Velonutzung in der Stadt und auf dem Land?
Die Distanz ist ein entscheidender Faktor und im ländlichen Umfeld deutlich wichtiger als in der Stadt. Man muss unbedingt direkte, sichere, verbundene, komfortable und attraktive Verbindungen für Velofahrende zwischen den Ortschaften schaffen. Heute muss man mit dem Velo oft Umwege fahren, während es für Autos einen direkten Weg gibt. In unserer Studie haben wir festgestellt, dass die Distanz die Velonutzung in zweifacher Hinsicht bremsen kann: Ist sie kurz, ist der Fussmarsch attraktiver; ist sie länger, kommen öffentliche Verkehrsmittel zum Zug. Für Jugendliche wie für alle anderen würden sich jedoch viele StreVCS MAGAZIN 4/23 11 cken perfekt für das Velo eignen, da 60 Prozent unserer Wege weniger als fünf Kilometer lang sind.
Wie können Jugendliche dazu ermutigt werden, (wieder) Velo zu fahren?
Die Sichtbarkeit des Velos muss generell verstärkt werden. Heute wird Jugendlichen vermittelt, es sei normal, mit 18 Jahren seinen Führerschein zu machen und sich mit dem Auto fortzubewegen. Das Gleiche müssen wir mit dem Velo machen und aufzeigen, dass es einen Platz auf der Strasse hat.
Wo sollte man konkret ansetzen?
Es ist eine Imagefrage: Jugendliche haben ein positives Bild vom Velo als Sport- oder Freizeitgerät, aber Mühe, es als Transportmittel zu betrachten. Gelegentlich wird es sogar mit einem Kinderspielzeug assoziiert. Damit Jugendliche das Velo neu entdecken, muss man dessen Vielfalt aufzeigen. Zwischen «Sonntagsfahrenden », die gemütlich um einen See fahren, und Sportlerinnen und Sportlern in Komplettausrüstung gibt es eine grosse Spannbreite: Eltern, die ihre Kinder in die Tagesstätte bringen, Schülerinnen und Schüler, die zur Schule fahren, Menschen, die das Velo zum Einkaufen nutzen ... Es gibt so viele Velofahrerinnen und Velofahrer wie Velotypen.
In wessen Verantwortung liegt es, das Velo bei Jugendlichen beliebter zu machen?
Man kann von den Eltern nicht alles verlangen. Die Schule sollte in Bezug auf die Sensibilisierung eine grosse Rolle spielen. Sie leistet eine sehr gute Arbeit, aber in erster Linie bei den Kindern. Eine Erinnerung daran, wie wichtig die Velonutzung ist, wäre in der Jugend aber sehr wichtig – zusammen mit praktischen Übungen in einem realen Kontext.
Wenn mindestens ein Elternteil Velo fährt, ist es viel wahrscheinlicher, dass die Kinder ebenfalls Velo fahren.
Es gibt doch spezielle Kampagnen wie «DEFI VELO» oder «Bike2school».
Das sind hervorragende Ansätze, die aber auf dem Willen der Lehrpersonen basieren. Ihr Pflichtenheft ist allerdings schon gut gefüllt. Ich würde es begrüssen, wenn solche Kampagnen in allen Schulen obligatorisch wären, zum Beispiel in Form einer jährlichen Standardveranstaltung. Ich könnte mir auch Themenwochen zum Velo vorstellen, mit Unterricht, praktischen Übungen, Reparaturkursen, Vorträgen, Filmen und so weiter. In diesem Bereich ist die Deutschschweiz der Romandie weit voraus.
Ausserdem geht die Förderung des Velos für den Weg zur Schule über den Unterricht hinaus: Die Infrastrukturen der Schulen weisen Lücken auf. Schülerinnen und Schülern, die mit dem Velo kommen, stehen nicht immer Parkplätze, Spinde und Duschen zur Verfügung, weshalb sie das Velo nicht nutzen möchten. Oder der Zugang zum Schulgebäude ist nicht sicher, zum Beispiel beim Gymnasium in Yverdon-les-Bains, wo der Veloweg ein paar hundert Meter vor dem Gebäude aufhört.
Letzteres fällt in den Zuständigkeitsbereich der Behörden. Können diese vielleicht mehr tun, damit Jugendliche das Velo wählen?
Klar, die Priorität liegt im Ausbau der Veloinfrastruktur. Das Velo muss als alltägliches Transportmittel gefördert werden. Für den Weg zum Gymnasium oder zur Berufsschule setzen die Behörden in erster Linie auf öffentliche Verkehrsmittel, obwohl das Velo zur Entlastung der Busse während der Spitzenzeiten dient. Ferner subventionieren die Städte oftmals ÖV-Abonnemente – insbesondere für Jugendliche. Weshalb nicht auch den Kauf eines Velos?
Sie haben den Einfluss der Familie und von Peergroups, die Rolle der Schule und die Wichtigkeit von Infrastrukturen erwähnt. Konnten Sie noch weitere Faktoren ausmachen, die es zu berücksichtigen gilt?
Für Jugendliche ist die Natur sehr wichtig. Bei der Nutzung des Velos ist ihnen die Qualität ihrer Umgebung sehr wichtig, denn sie wollen raus aus der Stadt und dem Verkehr und rein in die Natur. Dieses Element erscheint mir sehr wichtig, wenn man von der Wahl der Verkehrsmittel spricht – auch bei Erwachsenen. Wir neigen oftmals dazu, Nutzfahrten negativ wahrzunehmen, da wir der Meinung sind, damit Zeit zu verlieren. Um diese Momente aufzuwerten, ist es entscheidend, an der Attraktivität der Routen zu arbeiten, um aus unseren Fahrten Gelegenheiten zum Staunen zu machen.