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8. November 2023
ÖV Bahnland Schweiz
Samira Oschounig/muellerluetolf.ch

Bahnland Schweiz – quo vadis?

Das Bundesamt für Verkehr, die SBB und der Bundesrat verwickeln sich bei den Ambitionen und Möglichkeiten des Bahnverkehrs laufend in Widersprüche. Oder warum die Bahnpolitik in der Schweiz zurzeit konzeptlos dasteht.

Der Aufschrei war gross, als Anfang Sommer das Angebotskonzept 2035 des Bundesamts für Verkehr (BAV) publik wurde. Längere Fahrzeiten im Fernverkehr, schlechtere Anschlüsse an grossen Umsteigeknoten und weniger Direktverbindungen ins Ausland waren nur einige der Punkte, die zu harscher Kritik führten.

Neben diesen klaren Verschlechterungen gab eine Kuriosität zu reden: der angekündigte Zusammenschluss der Verbindungen Genf–St. Gallen und Zürich–München (eventuell sogar bis nach Wien). Um eine Direktverbindung zwischen der Romandie und Bayern sinnvoll zu bedienen, bräuchte es allerdings einen doppelstöckigen Neigezug. Und einen solchen wird es so schnell nicht geben. So krebste BAV-Direktor Peter Füglistaler in den Medien auch kurz darauf wieder zurück und verwarf die Idee.

Hoffnungen auf ein Luftschloss?

Das Fiasko um das Angebotskonzept 2035 offenbart schonungslos, wie sehr sich das BAV in der Angebotsplanung auf die «eierlegende Wollmilchsau» Doppelstock-Neigezug gestützt hat. Ohne über den praktischen Beweis für dessen Funktionstüchtigkeit zu verfügen. (Zu) lange ruhten die Hoffnung der Schweizer Bahnpolitik auf der sogenannten Wankkompensation (WAKO) – eine Form der Neigetechnik, die schnelles Fahren in Kurven auch für Doppelstockzüge ermöglicht hätte. Die SBB stellten die Versuche mit den neuen Fernverkehr-Doppelstockzügen (FV-Dosto) jedoch letztes Jahr ein. Zu sehr litt der Fahrkomfort unter der neuen Technik.

Das heisst auch, dass nichts wird aus Kapazitätserhöhungen bei gleichzeitiger Fahrzeitreduktion ohne teuren Infrastrukturausbau. Für die Strecken Winterthur–St. Gallen und Bern–Lausanne, hätten dank WAKO Fahrtzeiten unter 60 Minuten erreicht werden wollen. Nun müssen also doch Neubaustrecken her, um in Genf, Lausanne und St. Gallen Vollknoten mit maximalen Umsteigemöglichkeiten zu realisieren.

Baustellen verstärken Katerstimmung Die Erwartungen an den FV-Dosto gingen offenbar so hoch, dass sogar die Beschaffung neuer einstöckiger Neigezüge als Ersatz für die bestehenden ICN-Kompositionen in Zweifel gezogen wurden. Denn auch diese fehlen bisher im Angebotskonzept 2035, was zu erheblichen Fahrzeitverlängerungen und Anschlussbrüchen insbesondere auf der Jurasüdfusslinie führen würde.

Die Negativschlagzeilen zur Angebotsplanung des BAV fielen mehr oder weniger mit der Ankündigung der SBB zusammen, ab 2025 für zehn Jahre das Angebot in der Westschweiz drastisch zurückzufahren. Dies, um genügend Platz für Baustellen zu haben. Denn die in diesem Landesteil besonders veraltete Infrastruktur muss dringend in Stand gesetzt werden.

Verstärkt wird die Katerstimmung durch die jahrelangen Verspätungen bereits beschlossener Projekte. Dazu gehört etwa der Umbau des Bahnhofs Lausanne oder die Anpassungen der Infrastruktur in Zofingen, die für den Halbstundentakt Bern–Luzern vonnöten wären. Letzteres ist nun anstatt 2025 erst gut zehn Jahre später machbar.

Perspektive gut, Plan fehlt

All das steht den Zielen des Bundesrats entgegen, die er in der «Perspektive Bahn 2050» festgehalten hat. Der bundesrätliche Entwurf soll in der kommenden Wintersession im Parlament zum ersten Mal behandelt werden. Und er weckt durchaus Hoffnung. Die Rede ist etwa von der Verdoppelung des Anteils der Personenkilometer der Bahn an der Gesamtmobilität. Zudem soll es Neubaustrecken an jenen Orten geben, an denen die Bahn im Vergleich zum Auto heute noch nicht konkurrenzfähig ist.

Gleichzeitig wird der UVEK-Vorsteher offenbar nicht müde, auch den Ausbau der Autobahnen zu fördern. Damit werden unter dem Vorwand der «Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmenden» jegliche Bemühungen, den Modalsplit zugunsten der Bahn zu verändern, ad absurdum geführt. Anstatt eine klare Strategie zu verfolgen, um die Verkehrswende voranzutreiben, wird nun Klientelpolitik betrieben. Im Fall von Bundesrat Rösti zugunsten der Autolobby. Die vorhandenen – und keineswegs unbeschränkten! – Ressourcen finanzieller und personeller Natur dürfen keinesfalls in Autobahnen anstatt in eine zukunftsträchtige Bahninfrastruktur gesteckt werden.

Blindflug muss ein Ende haben

Aber auch im Parlament wird es schwierig werden, vernünftige Ausbauten für den Schienenverkehr aufzugleisen. Denn ohne nationale Strategie für ein Bahnangebot der Zukunft, sind die Verlockungen gross, auch hier in ein regionalpolitisches Geschacher zu verfallen, anstatt konstruktive Lösungen für alle zu suchen.

Eigentlich wäre ein Ende des Blindflugs beim Bahnausbau dringend nötig. Anstatt Fachkräfte mit der Planung von neuen Autobahntunnels und Sechsspur-Ausbauten zu beschäftigen, müsste aus der «Perspektive Bahn 2050» schnellstmöglich ein konkreter «Ausbau Bahn 2050» werden.

Florence brenzikofer z Vg
zVg
«Es braucht ein Fahrplankonzept»

Die Interessengemeinschaft öffentlicher Verkehr (IGöV) vertritt die Anliegen und Bedürfnisse der ÖV-Nutzerinnen und -Nutzer – Präsidentin Florence Brenzikofer über die grössten Herausforderungen und die dringlichsten Projekte.

Florence Brenzikofer, an welchen Stellen und warum harzt es aus Sicht der IGöV am meisten?

Erstens stagniert die Nachfrage im ÖV seit 2010 trotz grosser Investitionen. Hier müsste der Bund ansetzen und überlegen, was in seiner Planung schiefläuft. Zweitens wurden seit den 1990er-Jahren der Unterhalt und die Sanierung der Bahninfrastruktur durch das BAV und die SBB vernachlässigt. Drittens setzte man zu viel Hoffnung in neue Technologien und gab in der Ost- und Westschweiz wichtige Infrastrukturprojekte zur Reduktion der Reisezeiten auf.

Viele Bauprojekte sind um Jahre verzögert. Woran liegt das und wie liessen sie sich beschleunigen?

Das langfristige Fahrplankonzept – Zeithorizont 2050 – ist zu überarbeiten, wozu das BAV unbedingt das Know-how der SBB beiziehen muss. Weiter müssen die Bewilligungsverfahren von Grossprojekten besser koordiniert werden, damit nicht wieder ein Schiffbruch wie beim Umbau des Bahnhofs Lausanne passiert.

Was kann gegen den Fachkräftemangel getan werden?

Die Bahnen brauchen eine glaubwürdige und langfristige Personalpolitik, die zum Beispiel dauernde Überstunden und ungeplante Einsätze von Lokführerinnen und Lokführern vermeiden. Weiter braucht es eine Personalstrategie, die den Mitarbeitenden einen sicheren Arbeitsplatz gewährt, eine Entwicklungsperspektive gibt und für junge Mütter und Väter attraktiv ist.

Welche Ausbauprojekte sind aus Sicht der IGöV am dringendsten?

Es braucht eine Rückbesinnung auf die Tugenden, welche zum Erfolg der Bahn 2000 und der Neat-Projekte führten. Gestützt auf die empirisch erhobenen Verkehrsbedürfnisse der Bevölkerung ist ein Fahrplankonzept zu erstellen. Dann kann die Frage beantwortet werden, wo neue Infrastrukturen für die Umsetzung des Fahrplankonzepts nötig sind. Im Einzelfall kann dies auch Neubaustrecken zwischen den grossen Zentren bedeuten.

Was halten Sie davon, wenn bürgerliche Politikerinnen und Politiker von der Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmenden sprechen?

Die Schweiz hat sich zum Ziel gesetzt, Netto-Null bei den Klimaemissionen bis 2050 zu erreichen. Das Volk hat dazu soeben das Klimaschutz-Gesetz angenommen. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn wir den Verkehr im grossen Massstab von der Strasse auf die Schiene verlagern. Der motorisierte Strassenverkehr ist der grösste Klimasünder. Leider hat das Parlament unter dem Einfluss der Autolobby Milliarden für den Ausbau der Autobahnen bewilligt. Mit der Floskel der Gleichberechtigung wird nur kaschiert, dass damit das Klimaschutzziel missachtet wird.