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Alle Fakten sprechen dafür

Im Kanton Luzern kommt die Umsetzung von Tempo 30 auf Kantonsstrassen nicht vom Fleck. Es ist ein Thema, bei dem die Emotionen schnell hochkochen und das leider zu oft auf eine ideologische «pro- oder contra-Autofahrer»-Frage reduziert wird. Bei der Frage um Tempo 30 geht es allerdings um sehr viel mehr und relevantere Fragen, nämlich um Fragen der Gesundheit der Luzernerinnen und Luzern und der Sicherheit, insbesondere von schwächeren Verkehrsteilnehmern wie Schulkindern, VelofahrerInnen und SeniorInnen.

Es ist dringlich, dass die kantonale Politik sich auf die fachlichen und juristischen Fakten abstützt und nicht auf die von der Autolobby bewirtschafteten Emotionen. Denn so viel ist klar: Die Fakten sprechen für Tempo 30.

Ausgangslage

Rund 70'000 LuzernerInnen wohnen an Kantonsstrassen, an denen der Lärm über den gesetzlichen Immissiongrenzwerten liegt. Das sind 17 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung im Kanton. Rund 12’000 davon sind sogar von Lärm über dem Alarmwert betroffen (1).

Fast zwei Drittel aller schweren Verkehrsunfälle passieren in der Schweiz innerorts. Allein auf Tempo-50-Strecken werden jährlich rund 1900 Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer schwer verletzt, 80 kommen ums Leben. Die meisten dieser Opfer waren zu Fuss, mit dem Töff oder dem Velo unterwegs. Je höher die Geschwindigkeit, desto höher das Unfallrisiko. Der Einfluss der Geschwindigkeit ist dabei nicht linear sondern überproportional stark. So ist die Sterbewahrscheinlichkeit für Fussänger bei einer Kollision mit einem Fahrzeug bei Tempo 50 um das Sechsfache höher als bei Tempo 30 (2).

1 Medienmitteilung uwe 2019, «Neuer Strassenlärmkataster zeigt Lärmbelastung auf»
2 BFU, «Mit Tempo 30 die Verkehrssicherheit erhöhen», 2020

Gesundheit

Strassenlärm macht krank – schon weit unter den geltenden Grenzwerten
Spätestens seit der Veröffentlichung der grossangelegten Sirene-Studie 2017 sind die letzten Zweifel beseitigt: Lärm macht krank (3).

Strassenlärm verursacht Nervosität, Müdigkeit, Depression, Agressivität, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung des Leistungsvermögens, soziale Isolierung, Erschwerte Kommunikation, verminderte Leistung und Motivation bei Schulkindern (4).

Gemäss neusten Zahlen des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH) in Basel sterben in der Schweiz jährlich rund 450 Menschen an Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die durch Strassenlärm verursacht werden (5).

Eine allfällige untere Schwelle, bei der Lärm nicht gesundheitsschädlich ist oder nicht zur Belästigung führt, kann in «Sirene», wie auch in vielen anderen neueren Studien, nicht mehr nachgewiesen werden. Das bedeutet, dass Lärm bereits unterhalb der aktuell geltenden Grenzwerten gesundheitsschädigend ist und deshalb «jede Massnahme, die zu einer Reduktion der Lärmbelastung beiträgt, und sei sie noch so gering oder scheinbar unbedeutend, potenziell auch den Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessern kann» (6).

3 Short and Long Term Effects of Traffic Noise Exposure, Langzeitstudie mit über vier Millionen BewohnerInnen der Schweiz
4 «Gesundheitliche Auswirkungen von Lärm», BAFU
5 BAFU, «Besser schlafen dank Tempo 30», 2019
6 Röösli/Wunderli, «Verkehrslärm, kardiovaskuläre Sterblichkeit, Diabetes, Schlafstörung und Belästigung – Die Sirene-Studie», Übersichtsartikel Schweizerisches Medizinforum 2019

Tempo 30 wirkt

Tempo 30 reduziert den Lärm merklich
Tempo 30 ist eine einfache und wirkungsvolle Massnahme, um den Strassenlärm an der Quelle zu senken. Wenn Tempo 30 statt 50 gilt, lässt sich der durchschnittliche Schallpegel um rund 3 Db reduzieren, was umgerechnet einer Halbierung des Verkehrs entspricht (7). Mehr noch: Neben der rein physikalischen Reduktion des mittleren Schallpegels verringert Tempo 30 die empfundene verkehrsbedingte Lärmbelästigung zusätzlich um rund 2 Dezibel am Tag und 4 Dezibel in der Nacht (8).

«Tempo 30 ist in vielen Fällen eine zielführende Massnahme zur Reduktion der Lärmemissonen an der Quelle», lautet denn auch das Fazit des Forschungsprojekts VSS 2021/2014 des Bundesamtes für Strassen und des UVEK (9).

Tempo 30 senkt nicht nur den durchschnittlichen Lärm an einer Strasse sondern wirkt auch wahrnehmbar gegen besonders störende Einzelereignisse, welche insbesondere nachts Gesundheit und Schlafqualität massiv beeinträchtigen (10).

7 Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten, Merkblatt 2021/01, Bezug auf verschiedene Studien
8 «Strassenlärm: Tempo 30 entlastet deutlich stärker als gedacht», Studie des Umwelt- und Gesundheitsschutzes Zürich in Zusammenarbeit mit dem BAFU, 2022
9 «Grundlagen zur Beurteilung der Lärmwirkung von Tempo 30», UVEK/Bundesamt für Strassen, 2017
10 Pilotversuch Tempo 30 nachts, Schlussbericht, Stadt Zürich, 2019

Verkehrssicherheit

Tempo 30 rettet Leben
Mit Tempo 30 kann das Sterberisiko bei einem Unfall massiv gesenkt werden. Und die Zahl der Unfälle wird verringert: Auf neu umgesetzten Tempo-30-Strecken nimmt die Zahl der schweren Unfälle im Schnitt um 38 Prozent ab. Damit birgt Tempo 30 ein enormes Rettungspotenzial. Das Bundesamt für Unfall BFU fordert deshalb einen Paradigmenwechsel: «Tempo 30 muss überall dort eingeführt werden, wo es die Verkehrssicherheit erfordert – neben Quartierstrassen auch auf definierten Abschnitten von verkehrsorientierten Strassen». Auf diesen verkehrsorientierten Strassen ist das Rettungspotenzial gemäss BFU sogar noch grösser als auf den siedlungsorientierten Strassen (11).

11BFU-Medienmitteilung, 21. März 2023

Wirtschaftliche Auswirkungen

Tempo 30 zahlt sich aus
Verkehrslärm verursachte im Jahr 2019 in der Schweiz Kosten von rund 2,8 Milliarden Franken. Diese setzen sich aus Gesundheitskosten und Wertverlusten von Liegenschaften zusammen. Der Strassenverkehr ist für gut 80 Prozent der Kosten verantwortlich. Die Gesundheitskosten – Behandlungskosten, Produktionsausfälle, immatrielle Kosten – beliefen sich auf rund 1,55 Milliarden Franken, der Wertverlust der Immobilien auf 1,25 Milliarden Franken (12).

Im Verhältnis zum möglichen Einsparpotenzial sind die Kosten für die Einführung von Tempo 30 marginal; «die wirtschaftliche Gesamtbilanz zeigt ganz eindeutig: Es lohnt sich, Tempo 30 einzuführen» (13).

12 «Wirtschaftliche Auswirkungen von Lärm», BAFU, 2023
13 «Wie funktioniert der öV bei Tempo 30», Metron/VCS, 2023

Das sagt das Gesetz

Behörden sind zum Lärmschutz verpflichtet  
Unter welchen Bedingungen die allgemeine Höchstgeschwindigkeit auf Strassen herabgesetzt werden kann, wird in der Signalisationsverordnung (SVV) des Bundes definiert (14); aus Sicherheitsgründen, aus Umweltschutzgründen (Lärmschutz, Schadstoffe), zur Verbesserung des Verkehrsflusses.

Weiter hat das Umweltschutzgesetz (15) zum Ziel, «Menschen gegen schädliche Einwirkungen zu schützen». Im Umweltschutzgesetz sowie der Lärmschutzverordnung (16) ist weiter geregelt, dass Lärm «durch Massnahmen an der Quelle» begrenzt werden muss. Lärmimmissionen müssen so weit begrenzt werden, als dies technisch und betrieblich möglich sowie wirtschaftlich tragbar ist. Zudem besteht eine Sanierungspflicht für Anlagen (z.B. Strassen), bei denen die gesetzlichen Lärmgrenzwerte nicht eingehalten werden.

SVV, USG und LSV sind übergeordnete Bundesgesetze, die auf Kantonsebene nicht durch eigene Regelungen oder kantonale Volksinitiativen ausgehebelt werden können.

14  Signalisationsverordnung, Art. 108
15 Umweltschutzgesetz
16  Lärmschutzverordnung

Das sagt der Bundesrat

Es braucht zusätzlichen Lärmschutz
Der Bundesrat fordert im nationalen Massnahmenplan zur Verringerung der Lärmbelastung von 2017, dass «die Lärmpegel in der Schweiz weiter gesenkt werden müssen, um die Bevölkerung wirksam vor übermässigem Lärm zu schützen.». Das soll in erster Linie mit Massnahmen an der Quelle geschehen (17) – und damit ist vor allem Tempo 30 gemeint.

17  Nationaler Massnahmenplan zur Bekämpfung von Lärm, 2017

Das sagt das Bundesgericht

Tempo 30 ist auf Hauptstrassen zulässig
In verschiedenen Urteilen hat das Bundesgericht in den letzten Jahren mehrfach bestätigt, dass Tempo 30 auch auf verkehrsorientierten Strassen zulässig ist und bei Überschreitung der Lärmgrenzwerte als Lärmschutzmassnahme zwingend zu prüfen ist, bevor Erleichterungen erteilt werden können (18). Die Prüfung umfasst die Notwendigkeit, die Zweckmässigkeit und die Verhältnismässigkeit einer Lärmreduktionsmassnahme; und ist Tempo 30 bei überschrittenen Gerenzwerten Not-, Zweck- und Verhältnismässig, muss die Massnahme gemäss USG und LSV auch umgesetzt werden; aus politischen Gründen darauf zu verzichten ist in dem Fall nicht (mehr) möglich. Zuletzt hat das Bundesgericht im Urteil Kriens 2023 diese Einschätzung bestätigt: Die Rechtssprechung ankerkenne heute «die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit ohne Weiteres als taugliches Instrument nicht nur zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, sondern auch zum Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner vor übermässigem Lärm» (19).

18 u.a. Bundesgerichtsurteil Seevogelstrasse, März 2018, 1C_11/2017
19 Bundesgerichtsurteil Luzernerstrasse Kriens, März 2023, 1C_574/2020

Fazit

Pro oder contra Tempo 30: Bloss eine Frage politischen Haltung in der Verkehrspolitik? Nein! Bei der Frage um Tempo 30 auf Hauptstrassen geht es um sehr viel relevantere Themen: Tempo 30 rettet Leben, schützt die Gesundheit der StrassenanwohnerInnen, sorgt für mehr Sicherheit auf der Strasse, insbesondere für Schulkinder, VelofahrerInnen und SeniorInnen, erhöht die Lebensqualität, schützt Vermögenswerte, senkt Gesundheitskosten, verhindert Stau… Tempo 30 ist für all diese Bereiche eine günstige, einfach umsetzbare Massnahme - fachlich und juristisch unbestritten.

Sechs Mythen zu Tempo 30

  1. «Tempo 30 behindert den Verkehrsfluss und führt zu Stau»  
    Das Gegenteil ist der Fall, langsamer ist man oft schneller am Ziel: Tempo 30 verflüssigt den Verkehr. Weniger Beschleunigungs- und Bremsvorgänge, eine konstantere Fahrweise, geringere Sicherheitsabstände und eine bessere Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern sorgen für weniger Stau (20).
    20 Forschungsprojekt SVI 2015/004: Tempo 30 auf Hauptverkehrsstrassen. ASTRA/BAFU. 2019
     
  2. «Tempo 30 bremst den öV aus» 
    Falsch: Der effektive Zeitvberlust aufgrund von Tempo 30 ist mit 1,5 s/100 Metern nur gering. Auf der anderen Seite nehmen die positiven Wirkungen mit Tempo 30 aber zu: verstetigter Verkehrsfluss und erhöhte Verkehrssicherheit (21). Für die Sicherstellung eines zuverlässigen öVs ist denn auch viel entscheidender als das Temporegime, dass die öV-Achsen Vortrittsberechtigt bleiben. «Wir stellen fest, dass die Einführung von Tempo 30 auf städtischen Hauptverkehrsachsen nicht zwangsläufig zum Problem für den ÖV werden muss», so die Einschätzung der VBL (22).

    21 «Wie funktioniert der öV bei Tempo 30?», Studie von VCS und Metron, 2023
    22 «Ist Tempo 30 schlecht für den öV?», Luzernerzeitung, 2021
     
  3. «Tempo 30 führt wegen hochtourigem Fahren zu mehr Lärm» 
    Tempo 30 führt nicht zu Fahrten in höherer Drehzahl: Es hat sich gezeigt, dass die Autofahrer mehrheitlich ab 22 km/h im dritten Gang fahren (23). Vielmehr gilt unbestritten: Eine Temporeduktion kann die Lärmemissionen erwiesenermassen wahrnehmbar reduzieren. Durch eine Absenkung der Geschwindigkeit von 50 km/h auf 30 km/h werden die Lärmemissionen zwischen 2 und 4.5 dB verkleinert, Störungen durch Pegelspitzen und rasche Pegelanstiege nehmen merklich ab (24).

    23 Statistische Erhebungen zum Fahrverhalten mit Fokus Tempo 30, Grolimund + Partner und Stadt Zürich, 2016
    24 «Grundlagen zur Beurteilung der Lärmwirkung von Tempo 30», UVEK und ASTRA, 2017
     
  4. «Mit den Elektroautos verschwindet der Strassenlärm automatisch» 
    Schön wäre es, aber leider ist die Behauptung falsch: Ab einer Fahrgeschwindigkeit von Tempo 30 dominiert das Rollgeräusch den Motorenlärm; Elektroautos sind damit gleich laut wie Verbrennerautos. Anders gesagt: Eine Temporeduktion reduziert auch bei Elektroautos den Strassenlärm merklich (25).

    25 Faktenblatt «Lärmimissionen von Elektrofahrzeugen», Cercle Bruit (Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute), 2020
     
  5. «Tempo 30 bringt nichts, in Stosszeiten fährt man eh nicht schneller» 
    Richtig, in vielen dichten Zentren ist die Fahrgeschwindigkeit zu den Stosszeiten selten 50 km/h. Aber die ganze übrige Zeit, insbesondere nachts, ist eine Temporeduktion eine zweckmässige und sinnvolle Massnahme, um den gesundheitsschädigenden Strassenlärm insgesamt und bei den besonders störenden Einzelereignissen zu senken (26).

    26 Pilotversuch Tempo 30 nachts, Schlussbericht, Stadt Zürich, 2019
     
  6. «Bei Tempo 30 müssen die Fussgängerstreifen aufgehoben werden» 
    Nicht auf verkehrsorientierten Strassen wie z.B. Ortsdurchfahrten etc.! Das Gesetz unterscheidet zwischen Tempo-30-«Zonen» und -«Strecken». Zonen sind dabei für siedlungsorientierte Quartierstrassen geeignet, dort werden Fussgängerstreifen (mit Ausnahmen) in der Regel entfernt (27). Eine Tempo-30-«Strecken»-Signalisation gemäss Signalisationsverordnung hingegen ist in der Regel für vortrittsberechtigte, verkehrsorientierte Strassen die richtige Lösung. Hier bleiben die Fussgängerstreifen erhlten, auch bleibt die Strasse vortrittsberechtigt – einzig die signalisierte Höchstgeschwindigkeit wird gesenkt (28).

    27 Verordnung über Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen
    28 Signalisationsverordnung, Art. 108, Abweichung von den allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten