21. Juni 2024
1
Ich wohne da beim Rathaus, beim Misthaufen links. Ich, als Kind.
Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in der Igiser Dorfmitte. An unserer Haustüre müsste man an einem Strick ziehen, da dran hing ein Geschoss höher eine kleine Glocke. So hat man uns früher aus dem Haus geschellt. Neni hatte unsere Türglocke selbst gebastelt. Ohne jegliche Elektrik. Ein Kunstwerk sondergleichen.
Ab meiner Geburt 1980 verkauften immer mehr Bauern ihre Böden. Dort entstanden mit den Jahren Einfamilienhaussiedlungen. Dort wohnten junge Familien. Der Traum vom Eigenheim. Ganz typisch, im Standard. Schlüsselfertig.
Damals gab es in Igis noch rund 30 Bauernfamilien, einen Alpauf- und Abzug und beim Letzteren den feinen Käse, den man direkt vom Strassenrand aus probieren konnte. Diese Bauern sind heute fast alle gänzlich verschwunden. Auf der Sonnenseite des Churer Rheintals machte der steigende Bodenpreis seine eigene Rechnung. Ohne Kleinbauern.
Mit Kuhglocken bin ich eingeschlafen und mit dem monotonen Summen der Igiser Molkerei bin ich wieder aufgewacht.
Heute sind diese schönen Ereignisse Geschichte. Igis ein Schlafdorf. Mit sehr viel Verkehr. Wenn wir vor 40 Jahren noch auf der Magergasse spielten, haben sich unsere Hofhunde demonstrativ uns beschützend in die Strassenmitte hingelegt. Die Autos mussten besonders geduldig sein, bis unser in die Jahre gekommener Nachbarshund Ringo sich gemächlich in seinen Innenhof zurückzog. Natürlich erst nachdem wir in Sicherheit waren. Heute gilt die obligatorische Leinenpflicht. Hunde beschützen heute keine spielenden Kinder mehr auf der Strasse, sie müssen sich selbst in Sicherheit bringen. Das Auto hat heute die Magergasse voll im Griff. Und unangebundene Hunde stören schliesslich den Verkehr.
Unsere Haflingerstute Mirabel wäre wohl heute auch einigen in den Weg geraten, wenn sie am Abend von der Weide alleine die Magergasse herunter zum Brunnen getrabt ist, um vor dem frisch gestreuten Stall frisches Wasser zu trinken. So ging es bei uns zu und her. Damals.
Heute sind auch die Kuhfladen von der Strasse verschwunden. Der Volg ist Mittelpunkt des Geschehens und daneben unsere noch letzte Beiz, die neue Krone. Ohne Bürgergemeinde gäbe es auch diese nicht. Die Misthaufen stinken auch nicht mehr zum Himmel oder bis ins Schulzimmer.
2
„Ich ging zurück auf die storzigen Wiesen meines Vaters, und begann die Welt noch einmal zu entwerfen. Wider besseres Wissen, wider die Resignation!“
Aus die Luftgängerin von Robert Schneider
Wenn ich heute in meinem Garten bin, kommt mir immer wieder in den Sinn, wie ich mich früher als Kind für unseren wilden Garten geschämt habe. Heute würde man dem „ökologischer Ausgleich im Siedlungsraum“ sagen. Meine Klassenkammerad:innen hatten alle ganz weiche Rasen mit 3 Millimeter Bürstenschnitt. Da konnte man schmerzfrei drauf rumtollen. Das war bei uns anders. Unsere Wiese war storzig, schlammig und lebendig.
Wir hatten auch keinen Rasenmäher, sondern Nenis Schafherde und wenn die auswärts grasten, mähte er den Bungert mit seiner Sense, die er zuvor genüsslich gedängelt hatte. Erst heute kann ich erkennen wie sehr das mein Wesen und meine Haltung positiv beeinflusst und ganz entscheidend geprägt und ermöglicht hat. Ich bin heute sehr dankbar, durfte ich in einem „wilden Garten“ aufwachsen. Ich fühle mich genau dort zu Hause. Anders sein und denken braucht eben sehr viel Mut.
Biodiversität bedeutet: Unordnung zulassen, nicht immer alles aufräumen, Laub liegen lassen, ein bisschen wilder sein, unbefangen, Freude am Leben haben, beobachten, Schönheit schätzen und erkennen, loslassen, so sein wie man ist.
Dann kommen auch Tierchen zurück, sobald man ihnen den nötigen Lebensraum schafft. Die Natur ist sehr widerstandsfähig. Es braucht grösseren Widerstand, sie zu verhindern. Das tun wir grad im städtischen Raum sehr erfolgreich.
„Die Natur bedarf keiner Erläuterung; um ihre Schönheit zu verstehen, genügt ein offener Blick und ein empfängliches Gemüt.“
Karl Detlef
Wie können wir die Lust auf Natur wecken?
„Der Garten ist der letzte Luxus unserer Tage, denn er fordert das, was in unserer Gesellschaft am kostbarsten geworden ist: Zeit, Zuwendung und Raum.“
Dieter Kienast, Schweizer Landschaftsarchitekt
Natur schaffen braucht Zeit und Musse.
- die wir uns nehmen müssen. Es ist schon fast eine Rebellion gegen das System. Dabei braucht es vor allem auch Geduld und Beobachtungsgabe. Was passiert hier, was wächst dort? Ist das etwa Unkraut? Auch ein Unkraut hat eine Funktion. Aber welche?
Mein Neni hat immer gesagt: Unkraut vergeht nie. Man müsse ihm wohl das Genick brechen, er würde sonst nicht freiwillig sterben. Oder man könne ihm auch einen Brüggel über den Grind schlagen. Er war sehr stur. Zu stur für den Tod. Er habe so lange geduldig überdauert, ihn kriegt man drum nicht so schnell ins Grab. Er starb mit stolzen 95 Jahren, zu Hause. In seinem Zimmer. Er ist einfach nicht mehr erwacht. Es hatte ihm gereicht. Und der Weg in den Himmel hatte er sich, wie er sagte, schon als junger Soldat gesichert.
„Lerne von der Geschwindigkeit der Natur: ihr Geheimnis ist Geduld.“
Ralph Waldo Emerson
3
„Die Fichtinnen stehen still, sie schweigen. Sie wachsen so hoch, bis sie erst zuoberst ihre wahre Pracht offenbaren und dann beobachten sie für den Rest ihres Lebens.“
Yvonne Michel Conrad
Ich bin mit meinem Neni im Wald aufgewachsen, bis heute ist es mein wichtigster Zufluchtsort. Speziell das Birckholz und den Igiserwald kenne ich auswendig. Glücklicherweise sieht es dort seit 40 Jahren immer noch fast gleich aus. Und unsere Bänkli gibt es auch noch. Mein Neni hat erst Geschichten erzählt, wenn wir gesessen sind. Ich habe ihn dann einmal gefragt, ob er in den Himmel kommt. Dann hat er gesagt, dass er während dem 2 Weltkrieg die Bibel sogar 2 mal gelesen hat. Das würde für den Himmel reichen.
Wir sind stundenlang, tagelang, wöchentlich zusammen schweigend durch den Wald gelaufen. Da will ich hin, dort ein Feuer machen und sagen: hier ist es schön. Hier wohne ich. Ganz tief im Herzen.
Wie ich bereits erwähnte, galt mein Neni als sehr stur. Ausser für mich. Sturheit ist eine alte Bündner Eigenschaft. Wie sonst hätten wir hier oben überdauert und den allgegenwärtigen Gefahren der Natur getrotzt. In den Bergen. Im Wald. In der Schlucht, auf dem Grat? Das braucht schon eine gewisse Sturheit. Und es bedarf besonderer Gewaltmassnahmen, um ein Stück Land von der Natur freizuhalten. Das kultivierte Land war bis vor 100 Jahren für 80 Prozent der Bündner die einzige Lebensgrundlage. Dafür hatten wir weniger Probleme. Wenn man nicht hungrig ins Bett muss, dann ist die Welt nämlich in Ordnung.
Wir sind sehr weit gekommen. Schützen wir nun, was uns viel bedeutet und viel wert ist. Die Natur.
Ja zur Biodiversitätsinitiative am 22. September.
Yvonne Michel Conrad