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Tempo 30 setzt sich in ganz Europa durch
Ob Schweiz, Belgien, Spanien oder Italien: Immer mehr Städte in Europa führen Tempo 30 ein. Die Gründe und die Ziele sind unterschiedlich. Wenngleich oft ein Aspekt im Fokus steht, können immer mehrere Probleme behoben werden. Ein Blick auf fünf Städte.
Weniger Lärm in Freiburg
Lärm stresst und macht krank. In der Schweiz sind rund eine Million Menschen von lästigem und schädlichem Verkehrslärm am Wohnort betroffen. Und auch unterhalb der geltenden Grenzwerte schadet Lärm. 2019 verursachte übermässiger Strassenlärm in der Schweiz externe Kosten von rund zwei Milliarden Franken. Die Stadt Freiburg nahm dieses Problem ernst. Ab Herbst 2023 wurde auf 60 Prozent des städtischen Strassennetzes Tempo 30 eingeführt. In Kombination mit zwölf Kilometern schallabsorbierendem Strassenbelag konnte die Stadt die Anzahl Personen, die Strassenlärm über dem Grenzwert ausgesetzt sind, halbieren.
Nach der Einführung forderten zwei Petitionen die Ausweitung, eine Petition wollte Tempo 30 wieder abschaffen – wobei zwei Drittel der Unterzeichnenden Letzterer nicht in Freiburg wohnten. Das deckt sich mit den Eindrücken des Gemeinderates Pierre-Olivier Nobs: «Mir scheint, dass die Menschen, die in der Stadt Freiburg wohnen, zufrieden sind – im Gegensatz zu den Menschen in den Aussenbezirken.»
Nobs hebt auch die zusätzlichen Möglichkeiten hervor: «Dank Tempo 30 wurden die Neugestaltung des unteren Teils der Passage du Cardinal und die Schaffung des neuen Platzes ‹Liselotte Spreng› sowie das Pflanzen von 16 Bäumen in den Arsenaux möglich. Die positiven Auswirkungen sind umgekehrt proportional zu den (sehr geringen) Investitionskosten für Strassenschilder, Markierungen und Kommunikation.»
Guter Schlaf in Lausanne
Genug Schlaf macht zufriedener. Was viele nicht wissen: Unser Ohr schläft nie. Lärm führt im Körper zu Stressreaktionen, auch wenn wir davon nicht erwachen, weil wir uns daran gewöhnt haben. Wer in der Nacht Strassenlärm ausgesetzt ist, leidet häufiger unter Schlafstörungen, Bluthochdruck, Herzkrankheiten oder
Depressionen.
In Lausanne gilt seit September 2021 nachts von 22 bis 6 Uhr Tempo 30 auf allen Hauptverkehrsstrassen (Ausnahme: Hauptzufahrtsstrassen von den Autobahn-Ausfahrten ins Stadtzentrum). Lausanne hat sich als erste Schweizer Stadt für diesen Schritt entschieden. Bereits vorangehende Pilotversuche bestätigten die Wirkung eindrücklich: Die gemessene Lärmminderung entsprach einem Rückgang des Strassenverkehrs um 50 Prozent. Bei den besonders störenden Lärmspitzen gar um 80 Prozent. Dadurch wirkt sich Tempo 30 in zweifacher Hinsicht positiv auf einen ungestörten Schlaf aus. In Lausanne profitieren fast 33 000 Menschen von einer besseren Nachtruhe!
Die Stadt bilanzierte aber auch einen besseren Verkehrsfluss und einen geringeren Treibstoffverbrauch, dank der Geschwindigkeitsreduktion und zusätzlich rund 40 Ampeln im nächtlichen «Blinkmodus».
Veloförderung in Brüssel
Anfang 2021 hat die Stadt Brüssel Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet als Regelgeschwindigkeit eingeführt. Dies hatte zur Folge, dass innerhalb eines Jahres die Anzahl der Verkehrstoten um mehr als die Hälfte und die Zahl der Schwerverletzten um 20 Prozent zurückgegangen sind. Die objektiv gewonnene Sicherheit wurde auch subjektiv wahrgenommen: In der gleichen Zeitspanne hat die Zahl der Velofahrten um mehr als 20 Prozent zugenommen.
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Zufrieden mit der Veränderung in Brüssel zeigte sich auch die damalige Mobilitätsministerin, Elke van den Brandt: «Die Leute haben gesehen, dass es in der Stadt mit dem Rad funktioniert. Früher war das vielen einfach zu gefährlich. Heute nicht mehr, und jetzt gibt es auch immer mehr Kinder, die Rad fahren. Das ist sehr vielversprechend.»
Zusätzlich hat die Stadt den Infrastrukturplan «Good Move» entwickelt, um das Unterwegssein zu Fuss und mit dem Velo zu fördern und den Menschen ein gesünderes Leben zu ermöglichen. Was den Einzelnen nützt, hat auch eine volkswirtschaftliche Relevanz: Brüssel rechnet mit durchschnittlich 1400 Euro pro Einwohnerin und Einwohner, die für die Behandlung von Atemwegserkrankungen eingespart werden können, wenn vermehrt Velo gefahren wird. Die Auswertungen nach der Einführung von Tempo 30 ergaben zudem, dass es – für viele überraschend – trotz tieferen Tempos keine signifikanten Auswirkungen auf die Gesamtfahrtzeiten gab.
In einem Interview mit dem «Allgemeinen Deutschen Fahrrad- Club» sagte van den Brandt: «Drei Viertel waren für Tempo 30, ein Viertel war dagegen. Die Menschen haben Tempo 30 schnell akzeptiert, denn die Wirtschaft floriert, und der Verkehr läuft seitdem flüssiger: Es gibt weniger Staus.»
Schöner Flanieren in Bologna
Als erste italienische Grossstadt hat Bologna 2023 flächendeckend, mit Ausnahme der Schnellstrassen, Tempo 30 eingeführt – Strafen werden seit 2024 verhängt. Damit will die Stadt mehr Sicherheit, nachhaltige Mobilität und Lebensqualität. Nicht nur in den einladenden Fussgängerzonen oder im historischen Zentrum, sondern für alle 400 000 Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt. «In Bologna werden wir etwas langsamer fahren und dafür sicherer sein», schrieb Bolognas Bürgermeister Matteo Lepore in einem Brief an die Stadt.
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«30logna» beinhaltet auch verschiedene Begleitmassnahmen. Dazu gehören Strassenverengungen, erhöhte Kreuzungen oder ein Parkplatzregime, die Schaffung von Umweltinseln durch flächendeckende Begrünung und Stadtmobiliar, aber auch Kommunikationskampagnen und systematische Verbesserungen in der Planung für die Fussgängerinnen und Velofahrer.
Im Januar 2025 hat die Stadt ihre Beobachtungen nach einem Jahr Erfahrung publik gemacht. Zum ersten Mal seit dem Messbeginn vor reissig Jahren hat in Bologna kein Mensch sein Leben beim Gehen oder Überqueren der Strassen verloren. 2014 bis 2023 starben im Mittel sechs Menschen, die zu Fuss unterwegs waren. Die Zahl der an Unfällen beteiligten Fussgängerinnen und Fussgänger ging um 16 Prozent zurück. Insgesamt haben die tödlichen Unfälle um die Hälfte abgenommen. Zieht man in Betracht, dass die schweren Unfälle in Italien im gleichen Zeitraum zugenommen haben, erscheint die Leistung von Bologna noch wertvoller.
Gleichzeitig konnte man in der Hauptstadt der Emilia-Romagna beobachten, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung weniger Auto fuhr und vermehrt die öffentlichen Verkehrsmittel und das Velo nutzte.
Zu Fuss in Bibalo
Als erste Grossstadt Spaniens führte Bilbao (347 000 Einwohnerinnen und Einwohner) am 22. September 2020 flächendeckend Tempo 30 ein. Im Sommer 2018 galt Tempo 30 bereits auf 87 Prozent der Strassen, im Herbst 2020 schliesslich für sämtliche Strassen. Allein die Wirkung der letzten 20 Prozent ist eindrücklich: Ein Jahr nach deren Einführung sind die Verkehrsunfälle um weitere 22,9 Prozent zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum ist auch die Luftverschmutzung markant zurückgegangen.
Alle Fraktionen im Stadtrat haben sich auf einen Fahrplan für nachhaltige urbane Mobilität bis 2030 geeinigt. Das Engagement macht Bilbao besonders auch für Fussgängerinnen und Fussgänger attraktiv: Trottoirs wurden verbreitert, der Autoverkehr wirkt weniger dominant. Die Autonutzung liegt in Bilbao bei 11 Prozent, das ist der tiefste Wert unter Spaniens Grossstädten. Dafür werden 60 Prozent aller Wege zu Fuss zurückgelegt.
Bilbao gilt als Stadt der kurzen Wege. «Wir mögen es, im selben Raum zu leben, zu arbeiten und uns zu amüsieren», sagt Neli Santos, Beraterin für Mobilität und Umweltfragen im Stadtrat von Bilbao. Befürchtungen des Gewerbes haben sich nicht bewahrheitet. Vorher-nachher-Untersuchungen haben gezeigt, dass Warenlieferungen durch das neue Verkehrsregime nicht beeinträchtigt wurden. Die Anzahl der pro Stunde gelieferten Bestellungen blieb gleich. Die öffentlichen Busse waren sogar schneller am Ziel als vorher. Bilbao hat die Einführung von Tempo 30 mit Umfragen in der Bevölkerung begleitet. Interessant war, dass auch die Gruppen, welcher der Massnahme zu Beginn ablehnend gegenüberstanden, etwa Händler, Lieferwagenfahrerinnen und Taxifahrer, nach einer gewissen Zeit vom besseren Verkehrsfluss überzeugt waren und kein Problem mehr darin sehen.
Und Spanien folgt sogleich: Am 11. Mai beschloss Spanien als erstes Land in Europa Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den Städten. Diese Senkung der Geschwindigkeit soll es den städtischen Behörden ermöglichen, freundlichere, menschlichere Städte zu schaffen, in denen verschiedene Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer sicherer koexistieren können. Proteste gab es kaum.