
Langsamer fahren statt Autobahn-Ausbau
Welche Geschwindigkeit angemessen ist, bleibt auch bei den Autobahnen eine ewige Debatte. Seit über 50 Jahren diskutieren wir, ändern unsere Meinung, das Gesetz und dann wieder unsere Meinung. Warum fällt es so schwer, langsamer zu fahren?
Die Geschwindigkeit auf den Autobahnen auf 100 km/h und auf einigen Abschnitten gar auf 80 zu begrenzen, würde den Verkehrsfluss verbessern und gleichzeitig den Treibstoffverbrauch senken – so die Argumente in der Motion, die Nationalrat Raphaël Mahaim (Grüne VD) vergangenen Dezember einreichte. Nach der Ablehnung des Autobahn-Ausbaus durch die Bevölkerung will der Politiker so der Stauproblematik auf verschiedenen Autobahnabschnitten begegnen. Langsamer fahren statt ausbauen: Die Idee ist weder verrückt noch neu. Das Tempolimit auf den Strassen und Autobahnen der Schweiz wird seit Jahrzehnten rege diskutiert und nimmt immer wieder neue Wendungen.
Erste Vorschriften
Das Schweizer Parlament verabschiedete 1932 das «Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr». Auch wenn darin von Geschwindigkeit die Rede ist, wird keine Begrenzung erwähnt. Der Text setzt auf die Verantwortung der Autofahrer und weist sie lediglich an, ihre Fahrweise den Strassen- und Verkehrsbedingungen anzupassen. Damals war die Technik genauso einschränkend wie das Gesetz – also war die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrzeuge geringer als heute. Angesichts des Aufschwungs der Autoindustrie lösen mehr und schnellere Autos Sicherheitsbedenken aus. 1958 wurde das Strassenverkehrsgesetz mit den Grundlagen verabschiedet, die noch heute in Kraft sind. Es setzte ein Tempolimit von 60 km/h innerorts fest, das 1983 auf 50 km/h gesenkt wurde. Für die Autobahn gab das Gesetz jedoch keine Empfehlung ab.
Freie Fahrt auf der Autobahn
1963 beantragte der Kantonsingenieur von Nidwalden beim Bundesamt für Strassen ASTRA die Prüfung eines Tempolimits von 100 km/h auf der A2. Wenige Jahre davor war die Autobahn zwischen Luzern und Hergiswil eröffnet worden, die als erste Strecke in der Schweiz gilt. Ein sehr schwerer Unfall hatte soeben drei Menschen das Leben gekostet. Der Kantonsingenieur brachte daher Sicherheitsargumente vor, doch der Bundesrat wies den Vorschlag ab. Die Antwort war klar: Der Bundesrat will kein Tempolimit für die Autobahnen in der Schweiz.
Die folgenden Jahrzehnte zeigten die vielen Umwege, die am Ende zu den heute geltenden 120 km/h geführt haben. Nicht die Sicherheit, sondern die Ölkrise sorgte schliesslich für die ersten Geschwindigkeitsbegrenzungen auf unseren Autobahnen. 1973 veranlasste sie den Bundesrat, die Geschwindigkeit auf den Autobahnen zur Verhinderung einer Treibstoffknappheit auf 100 km/h zu begrenzen. Wenig später wurde die Geschwindigkeit testweise auf 130 km/h erhöht, was so überzeugend war, dass sie 1977 offiziell eingeführt ... und ein paar Jahre später zur Verringerung der Luftverschmutzung wieder auf 120 km/h gesenkt wurde.
In den 80er-Jahren sorgte man sich über den Zustand des Planeten und insbesondere das Waldsterben. So diskutierte der Bundesrat über eine Senkung auf 80 km/h auf den Autobahnen, was heftige Reaktionen auslöste und zum Start der Unterschriftensammlung für die Volksinitiative «pro Tempo 130/100» führte. Diese forderte eine Erhöhung der Geschwindigkeit auf 130 km/h auf der Autobahn und 100 km/h ausserorts, wo bisher 80 km/h galt. Die Initiative kam 1989 vors Volk und wurde mit 62 Prozent der Stimmen abgelehnt.
Viele Vorteile ...
Besserer Verkehrsfluss, mehr Verkehrssicherheit und weniger Umweltbelastung – die Vorteile einer geringeren Geschwindigkeit wurden immer wieder aufgezeigt. Als 1973 die erste Begrenzung auf den Autobahnen eingeführt wurde, beobachteten die Behörden einen Rückgang der Unfälle um 50 Prozent. «Die Erkenntnis ist einfach: Wird das Tempolimit erhöht, steigt die Anzahl schwerer Verkehrsunfälle. Senkt man es, verringert sich diese Zahl», resümiert Stefan Siegrist, Direktor der Beratungsstelle für Unfallverhütung. So scheint die Geschwindigkeit hinsichtlich Verkehrssicherheit ein zentrales Rad im Getriebe zu sein. Dreht man daran, setzt sich der ganze Mechanismus in Bewegung: Fährt man schneller, ist die Sicht schlechter, der Bremsweg länger und die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls und dessen Schwere nehmen zu.
Umgekehrt führt eine Verringerung der Geschwindigkeit um ein paar km/h zu einem besseren Verkehrsfluss – in der Stadt wie auf der Autobahn. Das ASTRA testet seit einigen Jahren ein Tempolimit von 80 km/h auf bestimmten Autobahnabschnitten, um Staus zu reduzieren. Sein Fazit ist klar und deutlich: Bei 80 km/h fliesst der Verkehr auf den Hauptverkehrsachsen besser. Das ASTRA plant, diese Geschwindigkeit künftig zu Stosszeiten anzuwenden.
Eine tiefere Geschwindigkeit bringt zahlreiche Vorteile für die Umwelt. Sie ermöglicht eine Verringerung der Treibhausgas-Emissionen, da sie den Treibstoffverbrauch der Fahrzeuge reduziert. Daher ist die Massnahme auch für Autofahrerinnen und Autofahrer wirtschaftlich interessant.
... aber wenig Zustimmung
Auch wenn die Motion von Mahaim weder neu noch extrem ist, löst sie negative Reaktionen aus. Wie bei jedem Versuch, die Geschwindigkeit oder den Umfang des Autoverkehrs zu reduzieren, empören sich die politische Rechte und die Automobilszene und kritisieren die Massnahmen als unwirksam, strafend und gar «freiheitsfeindlich».
Jenseits der Schweizer Grenzen lassen sich ähnliche Debatten beobachten. Beispielsweise 2020 in den Niederlanden, als die gesetzlich erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen tagsüber auf 100 km/h reduziert wurde. Der Entscheid setzte sich als eine Art Kompensationsmassnahme für die tausenden von Bauprojekten durch, die aufgrund zu hoher Ablagerung von Stickstoffverbindungen gestoppt worden waren. Durch die tiefere Geschwindigkeit tagsüber auf den Autobahnen konnten die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden.
Die Massnahme war jedoch weit davon entfernt, auf Zustimmung zu stossen. Der Ministerpräsident hatte sie mit Zähneknirschen verabschiedet und sie gar als «schrecklich» betitelt. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung befürwortete eine Geschwindigkeit von 100 km/h. Die anschliessenden Umfragen zeigten eine deutliche Entwicklung der öffentlichen Meinung. Zwei Jahre nach Massnahmeneinführung sprachen sich 60 Prozent der befragten Personen gar für ein Tempolimit von 90 km/h auf der Autobahn aus. Trotz der positiven Beispiele bleibt es schwierig, die Menschen zu überzeugen.
Zeitersparnis
Es ist eine emotionale Debatte, denn sie ist Teil einer umfassenderen Repräsentation des Begriffs Geschwindigkeit. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebensrhythmen insofern intensiviert, als die Fortbewegung, der Konsum und die Kommunikation zugenommen haben. Von der Schrittgeschwindigkeit aufs Pferd, dann zum Auto, zur Dampflokomotive und schliesslich zum Flugzeug. Die Beschleunigung der Welt treibt den technologischen Fortschritt an.
In einer Gesellschaft, in der Zeit eine zu maximierende Ressource ist, steht Geschwindigkeit für Effizienz. Zeitersparnis bedeutet Geldersparnis. Das Wirtschaftssystem und die technologischen Entwicklungen ermöglichten eine Beschleunigung und Verdichtung der Personen-, Waren- und Informationsströme – oft mit einem Rentabilitätsziel. Es ist schwierig, Entschleunigung in einer Gesellschaft anzupreisen, die Geschwindigkeit mit Fortschritt verbindet.
Das Modell gerät allerdings ins Wanken. Das ungebremste Streben nach Produktivität und Geschwindigkeit zeigt die Folgen für Gesellschaft und Umwelt auf. Staus, Unfälle, Verschmutzung, aber auch Stress, Angst und Erschöpfung sind die Symptome eines strauchelnden Systems. Sowohl im beruflichen Umfeld als auch in unseren sozialen Beziehungen schockiert uns diese Verbissenheit. Denn alle, die aufgrund des vielen Laufens erschöpft sind und schliesslich zum Arzt oder zur Ärztin gehen, um nicht zusammenzubrechen, erhalten wenig überraschend den Rat: «Versuchen Sie, es langsamer anzugehen!»