Fünf Kleeblätter und ein verspäteter Sonderweg
Die Schweiz begann spät mit dem Autobahnbau. Ging es um 1960 autoritär und mit brachialer Betongewalt zu und her, wurden Nationalstrassen später sanfter der Landschaft angepasst. Auch wegen des Widerstandes des VCS. Die Gegenwehr erreichte im Knonaueramt um 1988 herum einen Höhepunkt.
Im Jahre 1927 stiess der Basler Schlosserlehrling Willy Sarbach in einer Ausstellung auf die Preisfrage: «Wie können sich nördlich der Alpen noch nirgends realisierte Hochleistungsstrassen mit vier Spuren konfliktfrei kreuzen?» Ausgeschrieben hatte die Preisfrage ein deutscher Verein namens «HaFraBa». Das Kürzel bedeutete Hamburg-Frankfurt-Basel.
Sarbachs nachher gebräunte Idee
Sarbach guckte sich in Basel diverse verschwurbelte Modelle einer solchen Kreuzung an. Dann hatte er eine Idee, die heute so geläufig ist wie der Schraubverschluss einer Petflasche. Er erfand das Autobahn-Kleeblatt. 1929 bekam er vom Amt für Geistiges Eigentum in Bern dafür ein Patent. Da wusste er noch nicht, dass in den USA schon 1916 ein Bauingenieur namens Hale eine ähnliche, wenn auch noch nicht ausgereifte Idee gehabt hatte.
Aber mit den Autobahnen ging es noch nicht recht vorwärts. Erst 1933 entdeckten die Nazis den Wert der Schnellstrassenidee samt Sarbachs Kreuzungs-Geniestreich. Im Mai 1935 gingen 22 Kilometer der «HaFraBa» bei Darmstadt in Betrieb. 1938 wurde nach Sarbachs Plänen das Schkeuditzer Kreuz bei Leipzig fertiggestellt. Die deutschen Autobahnen, von denen bis 1943 fast 3900 Kilometer gebaut wurden, senkten in der Folge tatsächlich kurz die Arbeitslosenzahlen. Als der Krieg ausbrach, schufteten an den vierspurigen Strassen aber vor allem Kriegsgefangene.
Der Schweizer Autobahn-Sonderweg
Die Schweiz hatte also 1929 einen ganz kleinen Beitrag zur Geschichte der europäischen Hochleistungsstrassen geleistet, noch bevor die ihre Unschuld verloren. Für etwa 30 Jahre verabschiedete sich die Schweiz, um erst ab den 60er-Jahren doch noch aktiv zu werden.
Als es in der Schweiz endlich vierspurig losging, zuerst 1955 herzig-klein in Horw bei Luzern, 1962 ernsthaft am Grauholz bei Bern und vor allem zur Expo 64 zwischen Genf und Lausanne, waren schon lange keine technischen Primeurs mehr möglich. Aber wie wir Schweizerinnen und Schweizer nun mal sind: Bis zu den total 2254 Kilometern des heutigen Nationalstrassennetzes waren wir beim Rekordaufstellen doch öfters emsig dabei.
Und trotzdem Rekorde
Nur gerade die Niederlande haben in Europa, bezogen auf Autobahnkilometer pro Landesfläche, ein dichteres Netz. Nach dem Motto: Wir können es uns leisten – nach dem dichtesten Eisenbahnnetz auch noch das zweitdichteste Autobahnnetz. Mobilitäts-Superluxus. Und apropos sichleisten-können: Die Schweiz baut auch die teuersten Autobahnen. In Deutschland kostet ein Kilometer um die 30 Millionen Franken. Bei der Transjurane N 16 hat der Kilometer 70 Millionen erfordert. Aktuell bezahlt das Amt für Strassen bei der Umfahrung Visp für viereinhalb Kilometer 450 Millionen. Gelegentlich bezahlte man für einzelne Kilometer auch schon eine Viertelmilliarde.
Die Schweizer Autobahnen werden zwar immer als Transitstrecken verkauft. Aber in Wirklichkeit sind sie Mitteldistanz-Pendlerstrassen.
Das ist auch einem weiteren Europa- Rekord geschuldet. Die Dichte der Anschlüsse ist nirgends höher. Die Schweizer Autobahnen werden zwar immer als Transitstrecken verkauft. Aber in Wirklichkeit sind sie Mitteldistanz-Pendlerstrassen. Man fährt morgens in Neuenhof drauf und acht Kilometer weiter in Dietikon wieder drab, abends umgekehrt. Sechs Minuten muss man nicht auf lästige Velofahrerinnen oder bremsende Fussgängerstreifen achtgeben.
Die Geldschwemme beim Autobahnbau ist, beziehungsweise war, lange auch ein helvetisches Unikum. 1962 trat mit dem Treibstoffzollzuschlag eine Regelung in Kraft, welche die Autobahnfinanzierung automatisierte. Sie trotzt bis heute praktisch allen Sparübungen und Defizitbegrenzungen.
Autobahn und Demokratie: kurvig
Die halbdirekte Demokratie hätte in der Sonderfallaufzählung auch noch als weiterer Punkt Platz gehabt. Aber leider funktionierte diese Demokratie vor allem zu Beginn des Autobahnzeitalters schlechter als ein Benziner mit Dieselfüllung. Das war zum Beispiel Robert Ruckli, dem damaligen Direktor des Bundesamtes für Strassenbau, zu verdanken, der, nun endlich mal von renitenten Bedenkenträgern befreit, mit Bauen loslegen wollte. Er erklärte, wie Thomas Schärer in seinem brillanten Aufsatz «Vom Kampf gegen den Beton» 1999 darstellte, «dass er sich nicht an ein Abstimmungsresultat halten würde, das der Auffassung seines Amtes entgegenstehe».
Morges im Kanton Waadt etwa wurde durch die Expo-Autobahn brutal mittendurch geteilt, trotz aller Unisono-Proteste. Oder ein Bild des kurzen Horwer Autobahn-Teilstücks 1955 zeigt, wie die Autos auf der linken Spur zwei Meter neben Wohnhäusern vorbeiknatterten, abgetrennt vom Wohnbereich durch einen gerade mal 90 Zentimeter hohen Maschendrahtzaun. Auf der Südseite führt ein Wanderweg mit minimaler Rasenabgrenzung
und ohne Zaun der Doppelspur Richtung Uri entlang. Für frühe Abgas-Junkies.
Widerstand gegen den Irrsinn
Zum Glück wurde, sogar noch ohne VCS, nicht der gesamte geforderte Irrsinn realisiert. Sonst querte jetzt in Bern eine sechsspurige Autobahn die Schanze unter der Universität und verhinderte jeden Bahnhofausbau. Und Zürich hätte ein neues Inselchen im See. Es hätte der Abstützung der Autobahn quer über das Wasser gedient, die den Blick von der Schanzenbrücke aufs Vrenelisgärtli für immer verhindert hätte. Die Brutalo-Brücke über Flamatt zeigt heute noch, dass das eidgenössische Motto «me mues halt rede mitenand» zu Beginn der Autobahnbegeisterung nicht viel galt.
Sozusagen mit Hilfe von ganz oben opponierte das Kapuzinerkloster in Faido erstmals erfolgreich gegen eine Linienführung mitten durch ein Dorf. Die Gotthard-Autobahn brummt seither auf der andern Talseite 24/7. Die Rawil- Autobahn zwischen Berner Oberland und Wallis scheiterte 1986 als wahrscheinlich einzige ganz, teils wegen einer erfolgversprechenden grünen Initiative, teils wegen zu erwartender Schäden an einem nahen Stausee.
Auch das Zürcher Ypsilon blieb unvollendet, nun bereits dank dem Widerstand einer Organisation, die erst um 1979 zu wirken begann und eine Art Abspaltung des grünen Flügels des TCS war: des VCS. Die Ypsilon-Idee, zwei Autobahnen bei der Letten mitten in der Stadt zusammenzuführen, war schon 1955 geboren. 1962 segnete der Bundesrat das Projekt ab. In den frühen Siebzigern gewann der Widerstand gegen das Monsterbauwerk unmittelbar neben der City an Kraft.
Allerdings gingen zwei Volksinitiativen 1974 und 1977 noch verloren. 1986 wurde die Vollendung des Ypsilons aber still und gesichtswahrend für den Bund beerdigt. Spätere Dankesschreiben des Bundes, dass die Ökos verhindert hatten, Zürich an der Limmat massiv zu verschandeln, sind bis heute keine bekannt.
Kleeblätter zwei bis fünf
1960 hatte man damit gerechnet, dass die rund 1500 Kilometer Nationalstrassen den Bund um die zwölf Milliardenkosten würden. Bis heute sind es etwa 100 Milliarden geworden. 2022 betrugen die Aufwendungen für Unterhalt, Erneuerung und minimen Neubau drei Milliarden.
1960 hatte man damit gerechnet, dass die rund 1500 Kilometer Nationalstrassen den Bund um die zwölf Milliarden kosten würden. Bis heute sind es etwa 100 Milliarden geworden.
Als der Höhepunkt des Bauens an den Autobahnen in den 80er-Jahren bereits überschritten war, schien es der rasant erstarkten Ökobewegung sinnvoll, zumindest Autobahnen mit geringer Nachfrage oder landfressende Parallelführungen mit Initiativen zu bekämpfen. Auch heute zeigt sich immer noch, dass einige Autobahnabschnitte wie die Transjurane mit einem Tagesverkehr von 14 400 oder die Gotthard-Autobahn mit einem Schnitt von 22 800 Durchfahrten nicht wesentlich stärker frequentiert sind als manche Ortsdurchfahrt.
Unter der Federführung des VCS kamen 1987 die vier sogenannten Kleeblatt-Initiativen zusammen: Gegen die Linie Zuchwil–Biel, gegen die Trasse durchs Knonaueramt, gegen Yverdon-Murten und die Transjurane. Die vierte Initiative wurde zurückgezogen.
Nie dagewesene Phantasie
Schon fast zu einem Mythos des Widerstandes gegen ökologieschädliche Grosstechnologie ist die Opposition gegen die N4 im Säuliamt geworden. Die «Arbeitsgruppe autobahnfreies Knonauer Amt», der VCS, vor allem aber die «Jungen Säuliämter» realisierten nicht nur schwierige Koalitionen mit Bürgerlichen, etwa den Bauernorganisationen. Sie hatten auch die Unterstützung aller lokalen Kulturorganisationen und entwickelten eine noch kaum je dagewesene Phantasie im Widerstand, legal und gewaltfrei. Der Videofilm zur N4 gewann einen Filmpreis in Lugano. Und vor dem Rathaus in Zürich tummelten sich zum Protest auch einmal Säuliämtler Kühe.
Dennoch gingen die drei Volksinitiativen 1990 verloren, mit nur 31 bis 34 Prozent Ja. Schärer analysierte den Stimmungswandel so: «Das Interesse an Umweltfragen, das im Zuge der Debatte um das Waldsterben und nach den Katastrophen von Tschernobyl und Schweizerhalle Mitte der 80er-Jahre breite Bevölkerungsschichten erfasst hatte, war bereits wieder abgeklungen. Zudem verlagerte sich in einer Zeit wirtschaftlicher Stagnation das Interesse auf Themen wie Arbeitsplätze und soziale Sicherheit.»
Den richtigen Zeitpunkt für Abstimmungen in einer Demokratie mit langen Behandlungsfristen zu finden, ist immer knifflig und risikoreich. Dass die Schweizer Autobahnen nach all diesem Widerstand relativ ökologischer wurden, war für die Bewegung insgesamt aber ein eher schwacher Trost.
Die «HaFraBa» in Deutschland wurde übrigens 1962 fertig. In Freiburg im Breisgau, wo die Schweizer BMW-Fans sich gerne mit 190 km/h austoben, wurde das letzte Teilstück eröffnet. Mit wieder einem kleinen, diesmal tragischen Schweizer Beitrag. Bei Neuenburg, zwischen Basel und Freiburg, war kurz vorher auch ein neuer Abschnitt eröffnet worden. Den wollte sich ein Schweizer Fussgänger, noch ohne Autobahnerfahrung im eigenen Land, genauer direkt auf der Fahrbahn anschauen. Er wurde überfahren.
Hans Kaspar Schiesser war in den Neunzigern Leiter der Verkehrspolitik beim VCS.