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So will Peter Schilliger (FDP) die Einführung von Tempo 30 erschweren
Tempo 50 hält eine Strassenhirarchie aufrecht, in der Autofahrende klar im Vorteil sind. Die gesetzliche Verankerung dieser Hirarchie wird zurzeit von verschiedenen Seiten gefordert. Das ist falsch. Gerade Tempo 30 hat nur Vorteile und muss auch in Zukunft möglichst einfach und flächendeckend eingeführt werden können.
Verkehr sind Velos, Busse und Trams. Autos und Lieferwagen sind Verkehr, ebenso Menschen, die zu Fuss unterwegs sind. Verkehr ist ein System, das nicht hierarchisch ausgerichtet, sondern zielgerichtet genutzt werden sollte: Welches Verkehrsmittel bringt mich in welcher Situation am besten ans Ziel – effizient, praktisch und nachhaltig. Das widerspricht leider sowohl den geläufigen Auffassungen als auch der aktuell gültigen Hierarchie auf den Strassen. In aller Regel steht gar der Autoverkehr als alleiniges Synonym für den Verkehr.
Die Motion «Hierarchie des Strassennetzes innerorts und ausserorts sichern» von FDP-Nationalrat Peter Schilliger (LU) will die Einführung von Tempo 30 stark erschweren. Schilliger beruft sich auf die Funktion des Strassennetzes: Durchfahrtsstrassen seien verkehrsorientiert und entsprechend Tempo-50-würdig.
Heute sind die Funktionen der Strassen in den VSS-Normen festgelegt. Eine im Strassenverkehrsgesetz festgeschriebene Hierarchie gibt es nicht. Die von Schilliger angestrebte nationale gesetzliche Regelung würde die Autonomie der Kantone und Gemeinden empfindlich einschränken – bei einem Thema, von dem nur sie direkt betroffen sind.
Schilligers schlechte Argumente
Die Argumente, die Schilliger ins Feld führt, vermögen nicht zu überzeugen: Gelte flächendeckend Tempo 30, führe das zu Ausweichverkehr – und somit seien die Sicherheit und die Lebensqualität in Wohnquartieren und an Stadträndern nicht gewährleistet. Damit bläst er ins selbe Horn wie jüngst die Autobahn-Befürworterinnen und -Befürworter. Was bei diesen galt, gilt auch bei jenen: Autos verschwinden nicht einfach so.
Auch der Bundesrat war nicht überzeugt: Wolle man heute auf Durchfahrtsstrassen Tempo 30, brauche es ein Gutachten. Das nun auf Gesetzes- statt auf Verordnungsebene zu regeln, ändere nichts an der rechtlichen Situation. Er empfahl den Räten, die Motion Schilliger abzulehnen.
Diese sahen es anders. Der Nationalrat hat die Motion in der Herbstsession 2023 mit 102 gegen 79 Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen. Im Frühling 2024 folgte der Ständerat mit 25 Ja- zu 15 Nein-Stimmen bei drei Enthaltungen. Und damit ist der Ball wieder beim Bundesrat, der demnächst einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung geben wird.
Errungenschaft in Gefahr
Eine Strassenhierarchie ist heute Realität. Doch genau diese ist zu überdenken, wenn wir den Verkehr menschen-, umwelt- und klimagerecht ausgestalten wollen. Dann darf eine Ortsdurchfahrt – oder eben eine sogenannt verkehrsorientierte Strasse – nicht den Hauptzweck haben, Autos durchzuschleusen. Es braucht ein Umdenken und es braucht Massnahmen – zum Beispiel die möglichst flächendeckende Einführung von Tempo 30 im Siedlungsgebiet. Strassenhierarchien gesetzlich festzuschreiben, würde die wohl wertvollste verkehrspolitische Errungenschaft der letzten Jahrzehnte zunichtemachen.
Und es zeigen sich bereits erste Auswirkungen. Im Kanton Bern wurden – gewissermassen in vorauseilendem Gehorsam – Tempo-30-Vorhaben mit Blick auf die Motion Schilliger gestoppt. Der Regierungsrat zeigte sich im November offen für ein Moratorium bei der Einführung neuer Tempo-30-Zonen auf sogenannt verkehrsorientierten Strassen. Immerhin: es ist unklar, inwieweit sich ein solches Moratorium über die aktuell gültige Rechtslage hinwegsetzen könnte.
Auch in anderen Kantonen droht Tempo 30 Ungemach, so etwa in Zürich, Genf, Basel und Luzern. Im Kanton Zürich fordert die «Mobilitätsinitiative», dass «innerorts auf den Hauptachsen generell Tempo 50» gilt. Ebenfalls in Zürich verlangt die ÖV-Initiative, dass der öffentliche Verkehr möglichst wenig durch bauliche Massnahmen oder Verkehrsanordnungen beeinträchtigt wird. Wäre dies dennoch der Fall, müssten Mehrkosten für zusätzliche Fahrzeuge und Personal durch die zuständigen Gemeinden getragen werden. Die Aufzählung ist unvollständig, die Argumente wiederholen sich: Verkehr müsse «fliessen», der ÖV würde ausgebremst, ja gar unattraktiv.
Der beste Lärmschutz
Ein Blick auf die vielen Vorteile von Tempo 30 macht den momentan rauen politische Gegenwind unverständlich. Tempo 30 ist ein Alleskönner. Absolut zentral ist Tempo 30 als Lärmschutzmassnahme. Jede siebte Person in der Schweiz ist von übermässigem Verkehrslärm betroffen. Das hat Auswirkungen auf die Gesundheit und verursacht hohe Kosten.
Sind Autos mit Tempo 30 statt mit Tempo 50 unterwegs, nimmt der Lärm um rund drei Dezibel ab. Das entspricht in der akustischen Wahrnehmung einer Halbierung des Verkehrs. Besonders effektiv reduziert ein langsameres Tempo die Lärmspitzen, die besonders unangenehm sind. An der Lärmproblematik wird auch die Elektrifizierung der Autos nichts ändern. Ab 25 km/h dominieren die Roll- und Fahrtwindgeräusche, unabhängig von der Antriebsart.
Alle sind sicherer unterwegs
Eindrücklich ist, wie sehr sich die Sicherheit verbessert, wenn die Autos weniger schnell unterwegs sind. Mit Tempo 30 lässt sich mindestens ein Drittel der schweren Verkehrsunfälle verhindern. Kommt es dennoch zu Kollisionen, sind sie oft weniger folgenschwer, weil sich der Anhalteweg gegenüber Tempo 50 halbiert. Am meisten profitieren von der verbesserten Sicherheit die Fussgängerinnen und Fussgänger, Velo- und Motorradfahrende, Seniorinnen und Senioren sowie die Kinder auf ihren Schulwegen oder in der Freizeit. Besonders gross ist das Potenzial zur Verringerung der Opferzahlen auf Durchfahrtsstrassen – eben da wo die Motion Schilliger Tempo 30 künftig verhindern will.
Gerade das Velo ist ein probates Mittel gegen mit Autos verstopfte Quartiere. 63 Prozent aller Wege, die mit dem Auto zurückgelegt werden, sind kürzer als zehn Kilometer. Mehr als vier von zehn Autofahrten sogar kürzer als fünf Kilometer. Damit eignen sich insbesondere Letztere perfekt fürs Velo. Geringere Tempounterschiede tragen dazu bei, dass mehr Menschen (mehr) Velo fahren, da das (subjektive) Sicherheitsempfinden steigt.
Auch die Autofahrenden profitieren
Auch die Autofahrenden profitieren von Tempo 30. Der Verkehr wird flüssiger, gerade innerorts gibt es weniger Staus. Die Wartezeiten an den Fussgängerstreifen nehmen ab, auch für Autofahrende. Tempo 30 bewährt sich deshalb besonders auch auf Hauptstrassen.
Die Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten hält in ihrem Forschungsbericht von 2019 fest: «Auf die Leistungsfähigkeit (maximale Anzahl Fahrzeuge pro Stunde) hat eine Reduktion der Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h auf 30 km/h meistens keinen massgeblichen Einfluss. (...) Innerorts liegt die maximale Leistungsfähigkeit üblicherweise bei einer Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h.» Und mit jeder Autofahrt, die dank angenehmeren Bedingungen auf der Strasse durch einen Fussmarsch oder eine Velofahrt ersetzt wird, wird die Strasse entlastet.
Dank weniger Lärm, Unfällen und Umweltschäden sinken die sehr hohen externen Kosten des motorisierten Verkehrs. Wohnquartiere und Wohnanlagen entlang von Verkehrsachsen werden attraktiver, Ortszentren profitieren und der öffentliche Raum kann vielseitiger und intensiver genutzt werden. Und dies bei moderaten Kosten, da Tempo 30 nicht zwingend bauliche Massnahmen benötigt.
Wir setzen uns mit aller Kraft ein
Aus all diesen Gründen werden wir uns allenthalben und mit Verve für Tempo 30 engagieren. Die momentanen Begehren und Angriffe gehen klar in die falsche Richtung. Sie gefährden wertvolle und essenzielle Errungenschaften für die Lebensqualität der Schweizer Bevölkerung. Tempo 30 – aber eigentlich jede Form der Tempobeschränkung – hat ausnahmslos positive Effekte. In einem ersten Schritt haben wir die Petition «NEIN zum Tempo-30-Verbot» lanciert (mehr dazu im Kasten) und werden wir uns in der Vernehmlassung einbringen. Das Gesetz unterliegt dem fakultativen Referendum. Sollte es den befürchteten Rückschritt bringen, werden wir es ergreifen.