Ein Fass ohne Boden
Ganze 5,3 Milliarden Franken soll der Autobahn-Ausbau kosten. Doch ist es mehr als fraglich, ob es dabei bleibt. Wenn der Bund nämlich eingrosses Projekt in die Hand nimmt, fällt die Rechnung am Schluss meisthöher aus. Oft sogar viel höher.
Von Andreas Käsermann
Man sollte meinen, dass die Expertise im Umgang mit Zahlen in der Bundesverwaltung gut vorhanden sein sollte. Aber dieser Eindruck täuscht zuweilen. Gerade diesen Sommer wurde ein Tohuwabohu bei der AHV publik, welches das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen in wüsten Verruf brachte. Es stünde gar nicht so schlimm wie vermutet um die Altersvorsorge – man habe sich um satte vier Milliarden verrechnet.
Doch auch dieser Wert stimmte offenbar nicht und das Bundesamt hat ein paar Wochen später erneut neue Zahlen geliefert – diesmal gut zwei Milliarden, um die man sich vertan habe. Das Resultat war das Misstrauen der Öffentlichkeit und am Ende eine schallende Ohrfeige an der Urne: Die Stimmenden sagten Nein zur Reform der zweiten Säule.
Auch in anderen Bereichen hat die Bundesverwaltung heuer kein glückliches Händchen im Umgang mit Zahlen bewiesen. Das Bundesamt für Strassen ASTRA – seines Zeichens zuständig für die Nationalstrassen – hat nämlich ausgerechnet, was die Staus auf den Autobahnen kosten. Das ASTRA folgerte daraus, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines Autobahn- Ausbaus bei 184 Millionen Franken jährlich liege.
Bundesamt im Kampagnen-Modus
Doch die NZZ am Sonntag deckte im Sommer auf, dass auch diese Zahlen einen Haken haben. Sie sind erstens ungenau und zweitens veraltet. Dessen ist man sich beim ASTRA wohl bewusst. Aber die neuen Berechnungsgrundlagen seien von der Branche halt noch nicht anerkannt und darum noch nicht zu verwenden. Interessant dabei: Auch nach neuer Rechenart resultiert ein volkswirtschaftlicher Nutzen aus breiteren Autobahnen. Bloss ist der mit 65 Millionen – statt deren 184 – ein gutes Stück weniger spektakulär.
Entsprechend war in der Bundesratsbotschaft ans Parlament nur vom höheren Betrag die Rede. Die neueren, genaueren Zahlen waren den Zuständigen nicht einmal eine Fussnote wert. Der neue Ansatz gelte erst in einigen Monaten; also nach der Abstimmung über den Autobahn-Ausbau, mutmasst das Bundesamt. Das ist ein bemerkenswerter Zufall; besonders in Anbetracht dessen, dass die Abstimmungsfrage am 24. November das Kerngeschäft es ASTRA betrifft.
Voranschlag mehr als fragwürdig
Doch den Kampagnenstrateginnen und -strategen kommen nicht nur grosszügige Zahlen über den Nutzen eines Projekts zu Hilfe. Auch wenn die absehbaren Kosten möglichst gering sind, verbessert dies die Aussicht auf einen Abstimmungserfolg.
Zwar sind 5,3 Milliarden Kosten für gut 30 km neue Autobahnspuren und eine Handvoll Tunnel nicht gerade ein Schnäppchen; aber dennoch vermutlich der Minimalbetrag. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass in den Kampagnen – wohl um das Abstimmungsresultat nicht zu gefährden – fast durchwegs mit einer Zahl an der untersten Grenze der Preisspanne hantiert wird. Wenn man sich dann im Verlauf des Projekts der wirklichen Kosten gewahr wird, ist es für einen Abbruch meist zu spät. Zähneknirschend wird dann neues Geld bereitgestellt. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Drei prominente Exempel:
- Neue Alpen-Transversale NEAT: Bei der Volksabstimmung von 1998 veranschlagte der Bundesrat die Kosten noch auf 13,6 Milliarden Franken. Letztlich betrugen die Kosten rund 22,8 Milliarden Franken. Überschreitung: 68 Prozent.
- Beschaffung F/A 18: Im Jahr 1993 wurden die Kosten für die Beschaffung von 34 F/A-18-Kampfflugzeugen im Abstimmungsbüchlein auf etwa 3,5 Milliarden Franken geschätzt. Die endgültigen Kosten stiegen auf rund fünf Milliarden Franken. Plus 43 Prozent.
- Belchentunnel: Der dritte Strassentunnel durch den Belchen sollte ursprünglich 270 Millionen Franken kosten. Das Geld reichte bei weitem nicht: der Tunnel kostete letztlich rund 500 Millionen Franken – 85 Prozent mehr als veranschlagt.
Wenn der Bund ein grosses Projekt in die Hand nimmt, werden die Kosten so gut wie immer überschritten. Mitunter erheblich.
Wenn der Bund ein grosses Projekt in die Hand nimmt, werden die Kosten so gut wie immer überschritten. Mitunter erheblich. Doch ist das Phänomen nicht nur in der Schweiz bekannt. Im Rahmen einer Studie der Hertie School of Governance wurden 170 öffentliche Grossprojekte in Deutschland untersucht. Die Diskrepanz zwischen Plan- und Mehrkosten lag bei durchschnittlich 73 Prozent. Rekordhalter war dabei das Atomkraftwerk in Kalkar. Es wurde 1985 fertiggestellt, kostete 494 Prozent mehr als veranschlagt, ging aber nie in Betrieb. Eine veritable Investitionsruine.
Preisbarometer zeigt nach oben
Martin Winder, VCS-Bereichsleiter Politik und Kampagnen, rechnet auch beim Autobahn-Ausbau mit Kostenüberschreitungen: «Das Preisschild von 5,3 Milliarden dürfte zu knapp bemessen sein. Einerseits lehrt uns dies die Erfahrung – andererseits dürften insbesondere die vier Tunnelprojekte in der Bauphase noch mit Überraschungen und Mehrkosten aufwarten.»
Der veranschlagte Betrag beruhe auf einem Best-Case-Szenario und berücksichtige das Preisgefüge der frühen 2020er-Jahre, sagt Winder weiter. Die Baukosten im Strassenbau hätten aber in der Vergangenheit zugenommen. Das liesse sich auf eine Reihe von Faktoren zurückführen: «Ein wichtiger Kostentreiber ist die Inflation. Höhere Preise für Dienstleistungen und Energie tragen auch zu höheren Baukosten bei.» Ferner seien die Preise für Baumaterialien wie Asphalt, Beton, Stahl und andere notwendige Rohstoffe in den letzten Jahren weltweit gestiegen: «Namentlich, weil diese Rohstoffe knapp sind, wegen höherer Transportkosten und der gestiegenen Nachfrage nach diesen Materialien in anderen Sektoren.»
Blackbox Unterhalt
Autobahnen kosten allerdings nicht bloss während der Erstellung viel Geld. Einmal gebaut, wollen sie gepflegt werden. Das ASTRA schrieb in seinem letzten Netzzustandsbericht, im Allgemeinen sei das Netz in einem zufriedenstellenden bis guten Zustand, auch wenn der Zielwert nicht ganz erreicht werde. Und: es gibt durchaus Makel. «Einige Betriebs- und Sicherheitsausrüstungen sind in einem alarmierenden Zustand.» Man habe Massnahmen eingeleitet, um die Mängel zu beheben: «2022 investierte das ASTRA 1,06 Milliarden Franken in den Unterhalt und damit in den Erhalt des Nationalstrassennetzes.» Mit Blick auf die nächsten Jahre rechnet man beim Bund mit ähnlichen, aber leicht steigenden Unterhaltskosten.
Aus Sicht von Winder ist der Unterhalt zwar wichtig für die Sicherheit, aber alles andere als billig: «Gemessen an den 2250 km Länge des Nationalstrassennetzes, kostet jeder Kilometer Autobahn jährlich satte 532 000 Franken Unterhalt.» Ausserdem sei der Budgetposten in den letzten Jahren gewachsen und würde auch ob mehr Fahrspuren künftig eher zu- als abnehmen, prognostiziert Winder. «Selbstverständlich wollen wir die bestehenden Autobahnen nicht vergammeln lassen. Aber durch einen Ausbau weiter verteuern sollten wir sie auch nicht. Das sind wir unseren Kindern schuldig.»