Das neue Co-Präsidium im Interview
Jelena Filipovic und David Raedler bilden das neue Co-Präsidium des VCS. Mit dem VCS-Magazin haben sie über ihre Vision und die Herausforderungen der Zukunft gesprochen, aber auch darüber, dass sie sich nicht nur sprachlich gut ergänzen.
Interview: Camille Marion
Jelena und David, ihr seid seit dem letzten Juni an der Spitze des VCS. Wo treffen sich eine Bernerin und ein Waadtländer?
Jelena: Wir treffen uns regelmässig in Bern. Was wir aber noch viel regelmässiger machen, ist telefonieren und uns mit Kurznachrichten austauschen.
David: Auf elektronischem Weg geht es schnell und effizient, aber ich mag es immer sehr, mein Gegenüber auch zu hören.
Ihr habt euer Amt mitten in der Kampagne gegen den Autobahn-Ausbau übernommen. Welche Bedeutung hat diese Abstimmung für den VCS?
D: Sie ist einerseits wichtig, weil der VCS die nationale Allianz anführt, andererseits, weil das Thema für die Schweizer Verkehrspolitik zentral ist. Es ist das erste Mal, dass sich das Stimmvolk zum Ausbau der Autobahnen äussern kann, und wir müssen diese Chance unbedingt packen. Dies ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb wir uns für das Co-Präsidium zur Verfügung gestellt haben. Wir wollten mit unverbrauchten Köpfen ein breiteres Publikum erreichen, die Präsenz in den sozialen Netzwerken verstärken und unsere Sichtbarkeit in der Westschweiz erhöhen. Wir sind auch in der Lage, einen neuen Blick auf das einzubringen, was bereits getan wurde.
Wie versteht ihr eure Rolle in dieser Kampagne?
J: Wir stehen dem Kampagnenteam nahe, sind im stetigen Austausch und haben eine strategische Rolle im Lenkungsausschuss.
D: Ich bringe meinerseits die welsche Perspektive zur Sprache. Wir können uns nicht damit begnügen, Inhalte vom Deutschen ins Französische zu übersetzen, sondern müssen die kulturellen Nuancen berücksichtigen.
Nach der Abstimmung vom 24. November wird der VCS vor neuen Herausforderungen stehen. Welche Prioritäten seht ihr?
J: Unser stetiger Einsatz für den Ausbau des öffentlichen und des Veloverkehrs wird von entscheidender Bedeutung sein. Im Bundesrat und im Parlament weht derzeit ein rauer Wind. Das sehen wir an den kürzlich angekündigten grossen Sparmassnahmen, die zu Lasten des öffe tlichen Verkehrs, der Nachtzüge und des Klimaschutzes gehen. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte sind in Gefahr. Es ist ein beherzter Einsatz gefragt – um diese Fortschritte zu erhalten und erst recht, um die Verkehrswende voranzutreiben!
Wir wollen vor allem flachere Hierarchien und mehr Inklusion. Wesentlich für uns ist, den Austausch innerhalb des VCS, mit dem Zentralvorstand und zwischen den Sektionen zu fördern.
D: In diesem anspruchsvollen Umfeld muss der VCS seine Rolle als grösster Verband für eine nachhaltige Mobilität ausspielen. Der Status quo allein genügt nicht. Ein Blick nach Deutschland zeigt, welchen Riesenschaden die Sparpolitik auf Kosten des öffentlichen Verkehrs anrichtet. Auch nach der Abstimmung über den Autobahn-Ausbau werden wir das Sprachrohr der Schweizer Bevölkerung sein, die auf eine Mobilitätswende besteht.
Ihr habt von einem rauen Wind gesprochen. Betrifft dies auch die interne Organisation des VCS?
D: Wir wollen vor allem flachere Hierarchien und mehr Inklusion. Wesentlich für uns ist, den Austausch innerhalb des VCS, mit dem Zentralvorstand und zwischen den Sektionen zu fördern.
J: Wir wollen die Führung weniger zentralisiert und stärker partizipativ gestalten. Im Dezember werden wir gemeinsam mit dem Zentralvorstand, der sich in diesem Sommer ebenfalls stark erneuert hat, die Prioritäten festlegen. Generell wollen wir den Menschen, die sich nicht zuletzt auf lokaler Ebene engagieren, mehr Mitspracherecht einräumen.
Vor eurer Wahl wart ihr beide auf Sektionsebene aktiv. Was bleibt davon?
J: Nur Vorteile. Die Sektionsperspektive hat es ermöglicht, dass wir uns zunächst vor Ort engagieren, die Arbeitsweise des VCS kennenlernen und sie manchmal in Frage stellen konnten. Ich denke, dass diese Erfahrung sehr wichtig ist und dazu führt, dass wir heute auf nationaler Ebene bessere Entscheide fällen können. Da wir nicht Mitglieder des Zentralvorstands waren, ist der Sprung aus einer Lokalsektion in das Präsidium gross, aber wir haben eine fundierte Aussenperspektive auf die Arbeitsweise des Präsidiums.
Wo verortet ihr die Stärken des VCS?
D: Der VCS hat eine hohe Glaubwürdigkeit in Sachen Mobilität, und zwar dank seiner Erfahrung und seiner anerkannten Kompetenz bei den Behörden in den Kantonen und «Wir wollen vor allem flachere Hierarchien und mehr Inklusion. Wesentlich für uns ist, den Austausch innerhalb des VCS, mit dem Zentralvorstand und zwischen den Sektionen zu fördern.»
Gemeinden, aber auch bei den Partnerorganisationen und in der Öffentlichkeit. Der VCS lobbyiert nicht nur, sondern macht viel Basisarbeit, indem er wissenschaftlich fundierte Antworten auf aktuelle Probleme gibt. Dies unterscheidet uns von anderen Organisationen. Wir verfolgen ein überzeugendes Ziel und kämpfen für notwendige und umsetzbare Lösungen. Die Mobilität steht im Zentrum unserer Bemühungen. Jede und jeder ist im Alltag davon betroffen.
Und wo haben wir noch Potenzial?
J: Wir sollten das Gemeinschaftsgefühl innerhalb des Verbands stärker pfl gen. Bei jeder Delegiertenversammlung freue ich mich auf all die motivierten Menschen, die in der ganzen Schweiz und auf allen Ebenen für die gleiche Sache kämpfen. Unsere Gegner – die Auto- und Öllobby – haben finanzielle Ressourcen, über die wir nicht verfügen und auch nie verfügen werden, aber wir haben Menschen mit einem unermüdlichen Engagement im Rücken. Diese Schlagkraft ist stärker als alles Geld. Aber wir müssen unbedingt eine gemeinsame Vision und ein kollektives Verständnis entwickeln.
Trotz dieses Engagements ist es nicht einfach, neue Mitglieder zu gewinnen …
J: Umweltorganisationen im Allgemeinen haben Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu gewinnen. Es ist nicht mehr attraktiv, Mitglied zu werden und sich langfristig zu engagieren. Die Herausforderung besteht darin, ein neues Segment zu erschliessen, das etwas jünger ist als die Mitglieder, die dem VCS bei seiner Gründung aus sehr ideologischen Gründen beigetreten sind – und deren Treue wertvoll ist. Wir müssen auf Menschen abzielen, die sich in der Arbeit des VCS wiedererkennen, sich aber der Bedeutung einer Mitgliedschaft nicht unbedingt bewusst sind.
D: Viele sind zufrieden mit all dem, was der VCS erst möglich gemacht hat, etwa die Tempo-30-Zonen, die Begegnungszonen oder den Pedibus. Nun gilt es, die Zusammenhänge zwischen diesen Verbesserungen der Lebensqualität und der Arbeit des VCS zu erkennen. Damit wir die Mittel haben, die wir für unsere künftige Arbeit benötigen, müssen die Zufriedenen zu Mitgliedern werden. Dieser letzte Schritt fehlt, und daran werden wir arbeiten.
Geht es nicht zuletzt um Sichtbarkeit?
J: Die Gesellschaft hat sich seit der Gründung des VCS verändert. Zu Beginn unseres Bestehens in den 1980er-Jahren betrieben wir Oppositionspolitik. Wir waren vielleicht die Verhinderer, und das war damals notwendig. Heute hat sich das Bewusstsein für eine zukunftsfähige Mobilität geändert – wir müssen dieses Verhinderer-Narrativ hinter uns lassen. Verkehrsberuhigung, sichere Schulwege, Tempo 30 – das ist, was die Mehrheit der Bevölkerung heute will.
David, du bringst die Perspektive der Romandie ein. Welche Unterschiede zur Deutschschweiz in Sachen Verkehrspolitik gibt es denn?
D: Das verbindende Element ist meiner Meinung nach die Rolle der Eisenbahn für die Mobilität. Den grössten Unterschied sehe ich beim Velo. Wir hinken bei der Infrastruktur nach, aber es fehlt vor allem an einer Vision. In der Deutschschweiz ist das Velo einfach ein Transportmittel, in der Romandie hingegen wird es als Sportgerät verstanden – oder als politisches Statement. Der zweite grosse Unterschied besteht beim Schulweg: Die meisten Deutschschweizer Kinder gehen zu Fuss und unbegleitet zur Schule, während in der Romandie das Elterntaxi-Phänomen sehr verbreitet ist.
J: Diese Feststellungen unterstreichen die Bedeutung eines Tandems aus beiden Landesteilen zum Festlegen der strategischen Herausforderungen eines nationalen Verbands. Unser Co-Präsidium wird zudem durch eine weitere wichtige Perspektive ergänzt, und zwar durch das Tessiner Vizepräsidium in der Person von Thomas Ruckstuhl.
Jelena, du sitzt im Berner Stadtrat, David, du bist Grossrat des Kantons Waadt. Welchen Einfluss haben diese Funktionen auf eure Rolle beim VCS?
J: Die Ebenen ergänzen sich sehr gut. Der Autobahn-Ausbau ist ein gutes Beispiel: Er führt bekanntlich neben den hohen Umweltkosten auch dazu, dass mehr Verkehr entsteht, der dann abseits der Autobahnen in die Wohngebiete und vor unsere Haustür fliesst. Vor diesen Herausforderungen stehen dann die Lokalpolitikerinnen und -politiker vor Ort und müssen mit den direkt Betroffenen nach Lösungen suchen.
D: Die beiden Funktionen beeinflussen sich aber auch gegenseitig. Unsere Rolle beim VCS stärkt unsere Kompetenzen und unseren Einsatz vor Ort. Die Aktivität als Stadträtin beziehungsweise als Grossrat und das Wissen um die gesetzgeberischen Herausforderungen wirken sich auf unsere Strategie auf gesamtschweizerischer Ebene aus.
Euer berufliches und politisches Leben wirkt ziemlich anstrengend …
J: Ich schlafe definitiv weniger! Mir war bewusst, dass der Rhythmus bis zum 24. November intensiv sein wird. Diese Abstimmung ist aber extrem wichtig. Ich nehme einen vorübergehenden Schlafmangel gerne in Kauf, damit wir am 24. November feiern können!
D: Natürlich gibt es sehr viel zu tun, aber wir sind glücklicherweise zu zweit und können unsere Aufgaben gut aufteilen. So finden wir ein besseres Gleichgewicht.