Bewegtes Leben in der «rosa Stadt»
In den Strassen von Toulouse pulsiert das wilde Leben. Ein paar Tage in der Stadt genügen, um Sie in einen sonnigen Strudel von Geschichtserbe, Kultur und Innovation zu ziehen.
Überfallen, belagert, angezündet, besetzt, befreit: Toulouse bietet zweitausend Jahre Geschichte voller dramatischer Wendungen. Wer zu Fuss durch die hübschen Gassen flaniert, hat Zeit, das Zentrum zu entdecken und die wilde Atmosphäre aufzusaugen. Toulouse bezaubert mit einer harmonischen Architektur. Die Backsteinhäuser, die sich am Abend rot färben, haben der Stadt die Bezeichnung «rosa Stadt» und einen Ruf über die französischen Grenzen hinaus eingebracht. Doch das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert wollten die Behörden von Toulouse der Stadt die ihr zustehende Grandezza verleihen. Sie liessen Hauptstrassen im Haussmann-Stil errichten, die grosse Schneisen in die verwinkelten Gassen schlugen. Das Ziel war klar: Toulouse sollte Paris gleichen. Backsteine und Ziegel störten, sie vermittelten einen allzu ländlichen Charakter. Die Dächer wurden mit Schiefer bedeckt, die Mauern mit Bleiweiss übertüncht, einem weissen Pigment, das als Steinimitat wirkte. Mitte 20. Jahrhundert legte Toulouse den Rückwärtsgang ein und begann die Fassaden wieder abzuwaschen, um dem Stadtzentrum seine gemütliche Wärme zurückzugeben.
Vom Kapitol zur Garonne
Der Spaziergang beginnt vor dem Kapitol. Der eindrucksvolle Bau mit seiner neoklassizistischen Fassade mitten im Zentrum von Toulouse beherbergt das Rathaus und das Theater. Zu seinen Füssen liegt der Place du Capitole, der Treffpunkt der Stadt, in dessen Boden ein breites okzitanisches Bronzekreuz eingelegt ist. Das Symbol, das auch die Flaggen und weitere Embleme von Toulouse ziert, setzt sich traditionell aus vier Hauptarmen zusammen, die die Jahreszeiten darstellen und jeweils mit drei Kreisen – für die zwölf Monate des Jahres – verziert sind. Auf dem Place du Capitole wurden an den Enden die zwölf Sternzeichen eingefügt. Die Tradition will, dass man sich beim ersten Besuch auf sein Zeichen stellt und sich etwas wünscht. Von diesem Hauptplatz aus erstreckt sich ein Labyrinth von rosa Gassen bis ans Ufer der Garonne. Im Sommer flaniert man hier und trinkt ein Glas in einer der sympathischen Kneipen. Frühmorgens oder am Ende des Tages bieten die Quais einen wunderbaren Blick auf das Hôtel-Dieu Saint-Jacques, die Kuppel der Kapelle Saint-Joseph de la Grave und den Pont Neuf, die älteste Brücke in Toulouse.
Im Schatten der Kirchen
Toulouse besitzt prunkvolle religiöse Bauten. Im Jakobinerkloster mitten in der Stadt liegen die Reliquien des heiligen Thomas von Aquin, ein Besuch lohnt sich unbedingt. Von der Strasse aus wirkt die imposante Kulisse streng, doch hinter den Pforten betritt man eine helle Kirche, deren Doppelschiff mit einer spektakulären Steinpalme abschliesst. Der sonnige, ruhige Kreuzgang lädt zur meditativen Pause ein. Etwas neben dem Stadtzentrum stehen zwei weitere berühmte Kirchtürme von Toulouse. Die Basilika Saint-Sernin ist die grösste romanische Kirche Frankreichs. Sie wurde zu Ehren des ersten Bischofs von Toulouse erbaut, gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist eine wichtige Etappe auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Im diskreten Charme des «Quartier des Antiquaires» kann man die wilde Geschichte der Kathedrale Saint-Etienne entdecken. Die Architektur des unvollendeten Baus vermischt den gotischen Stil des Mittelalters mit der Nordgotik. Die Kathedrale wirkt heute zusammengeflickt und zeugt von einem bewegten 13. Jahrhundert für die Stadt Toulouse.
Maschinen und Flügel
Als Wiege der Luftfahrt steht Toulouse seit über einem Jahrhundert für die Eroberung des Himmels. Das Thema ist aus den bekannten Umweltgründen heikel, doch für die Wirtschaft und die Arbeit in der Region ist die Branche heute zentral. Ganz mit den Füssen auf dem Boden kann man das Museum «L’envol des pionniers » besuchen, um sich von der Geschichte der Luftpost mitreissen zu lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg ersann der Ingenieur und Unternehmer Pierre-Georges Latécoère einen Weg, die Armeeflugzeuge zu wirtschaftlichen Zwecken umzunutzen. Sein Plan? Ein Luftpostdienst für den Brieftransport zwischen Frankreich, Afrika und Südamerika, zu einer Zeit, als Flugzeuge kaum für Strecken über 400 Kilometer gebaut waren. «Ich habe nochmals alle Berechnungen gemacht, sie bestätigen die Meinung der Experten, meine Idee ist unrealisierbar. So bleibt mir nur etwas übrig: sie zu realisieren». Latécoère stürzte sich ins Abenteuer, umgab sich mit hervorragenden Piloten und schuf den Mythos der Luftpost. Direkt neben dem Museum liegt die Halle de la Machine, ein Hangar mit verblüffender Tierwelt. Riesenspinne, Drache, Minotaurus: Die ungewöhnlichen, poetischen Werke entstammen der Fantasie der Strassentheatergruppe La Machine. Ein Team von Bühnentechnikern mit schrägem Humor empfängt das Publikum und erzählt ihm die Legende jeder dieser beeindruckenden Kreaturen, bevor sie zum Leben erweckt werden. In Steampunk-Atmosphäre irgendwo zwischen Jules Verne, Leonardo da Vinci und Jean Tinguely bietet die Halle de la Machine ein Erlebnis, das zu jedem Aufenthalt in Toulouse gehört.